Nationalismus
Nationalismus-4
Wir wollen uns wohl ihre Maschinen aneignen,
doch nicht mit dem Herzen, sondern
nur mit dem Hirn. Wir werden sie ausprobieren
und Schuppen für sie bauen, doch
in unser Heim und unsere Tempel lassen wir
sie nicht ein. Es gibt Völker, welchen die Tiere,
die sie töten, heilig sind; wir können wohl
Fleisch von ihnen kaufen, wenn wir hungrig
sind, aber den Kult übernehmen wir nicht mit.
Wir dürfen nicht die Herzen unserer Kinder
vergiften mit dem Aberglauben: Geschäft ist109
Geschäft, Krieg ist Krieg, Politik ist Politik.
Wir müssen wissen, daß das Geschäft dem
Menschen mehr sein muß als bloßes Geschäft,
und ebenso Krieg und Politik. Ihr hattet eure
eigene Industrie in Japan; wie peinlich ehrlich
und gediegen sie war, sieht man an den Erzeugnissen,
an ihrer Feinheit und Haltbarkeit,
an der gewissenhaften Ausführung der kleinen
Einzelheiten, die man beim Einkauf kaum bemerkt.
Aber die Flutwoge des Betrugs ist über
euer Land gefegt von dem Teil der Welt her,
wo Geschäft Geschäft ist und Ehrlichkeit dabei
nur als die beste Politik befolgt wird. Habt
ihr euch nie geschämt, wenn ihr saht, wie die
Reklamezettel nicht nur die ganze Stadt mit
Lügen und Übertreibungen bekleben, sondern
auch in die grünen Felder dringen, wo der
Landmann seine ehrliche Arbeit tut, und auf
die Spitzen der Hügel, die das erste reine Licht
des Morgens begrüßt? Es ist leicht, unseren
Sinn für Ehrlichkeit und unser Zartgefühl
durch beständiges Reiben abzustumpfen, während
die Lüge im Namen von Handel, Politik
und Patriotismus mit stolzem Schritt einherstelzt,
so daß jeder Protest gegen ihr fortwährendes110
Eindringen in unser Leben als Sentimentalität
gilt, die eines rechten Mannes unwürdig
ist.
Und so weit ist es gekommen, daß die
Nachkommen jener Helden, die um ihr Leben
nicht wortbrüchig geworden wären, die es verwerflich
gefunden hätten, Menschen um gemeinen
Vorteils willen zu betrügen, die selbst
im Kampf die Niederlage einem unehrenhaften
Sieg vorgezogen hätten, – daß diese Nachkommen
sich eifrig der Lügen bedienen und
sich nicht schämen, dadurch Vorteile zu gewinnen.
Und dies ist bewirkt durch den Zauber
des Wortes »modern«. Aber wenn reine Nützlichkeit
modern ist, so ist die Schönheit ewig;
wenn niedere Selbstsucht modern ist, so sind
die menschlichen Ideale keine neuen Erfindungen.
Und wir müssen überzeugt sein, wie
modern auch die technische Fertigkeit ist, die
den Menschen um Methoden und Maschinen
willen stutzt und verkrüppelt, alt werden wird
sie nicht.
Aber während wir versuchen, uns von den
Anmaßungen Europas und von unserer eigenen
Verblendung zu befreien, können wir leicht in111
den gegenteiligen Fehler verfallen und durch
ein allgemeines Mißtrauen gegen den Westen
unsere Augen der Wahrheit verschließen.
Wenn wir aus einer Täuschung gerissen werden,
so treibt uns der Rückschlag der Enttäuschung
immer genau so weit von der Wirklichkeit
ab wie der erste Schwung des Wahns.
Wir müssen versuchen, zu der normalen Gemütsverfassung
zu kommen, wo wir deutlich
die Gefahr für uns sehen und vermeiden
können, ohne gegen die Ursache der Gefahr
ungerecht zu sein. Wir sind immer von Natur
versucht, Europa in seiner eigenen Münze
heimzuzahlen und Verachtung mit Verachtung,
Böses mit Bösem zu vergelten. Aber das hieße
wieder einen der schlimmsten Charakterzüge
Europas nachahmen, der sich in seinem Betragen
gegen die Völker zeigt, die es als gelbe
oder rote, braune oder schwarze Rassen bezeichnet.
(Hier ist übrigens ein Punkt, wo wir
östlichen Völker uns ebenso schuldig bekennen
müssen, da wir die Menschheit beleidigten, indem
wir Menschen, die zu einem besonderen
Glauben, einer besonderen Farbe oder Kaste
gehörten, mit äußerster Verachtung und Grausamkeit112
behandelten.) Nur weil wir uns vor
unserer eigenen Schwäche fürchten, die sich
durch den Anblick der Macht überwältigen
läßt, versuchen wir, eine andere Schwäche an
ihre Stelle zu setzen, die uns blind macht gegen
das, was den wahren Ruhm des Westens ausmacht.
Erst wenn wir das Europa wahrhaft
kennen, das groß und gut ist, können wir uns
wirksam vor dem Europa bewahren, das niedrig
und habgierig ist. Man wird leicht unbillig
in seinem Urteil, wenn man dem menschlichen
Elend gegenübersteht, – und man wird
pessimistisch in seinen Theorien, wenn das
Herz leidet. Aber nur der kann an der
Menschheit verzweifeln, der den Glauben an
die höhere Macht verliert, die ihr wieder
Kraft gibt, wenn sie am kläglichsten darniederliegt,
und die aus ihren Ruinen neues Leben
weckt. Wir müssen nicht verkennen, daß im
Westen eine lebendige Seele ist, die einen
stillen Kampf kämpft gegen die ungeheuren
Organisationen, unter denen Männer, Frauen
und Kinder zermalmt werden, weil ihr Mechanismus
keine geistigen und menschlichen
Gesetze kennt – eine lebendige Seele, deren113
Gefühl sich nicht ganz abstumpfen läßt
durch die gefährliche Gewohnheit, rücksichtslos
gegen die Völker zu verfahren, für die ihr
die natürliche Sympathie fehlt. Der Westen
hätte sich nie zu der Höhe erheben können,
die er erreicht hat, wenn seine Stärke nur die
Stärke des wilden Tieres oder der Maschine
wäre. Das Göttliche in seinem Herzen leidet
bei den Wunden, die seine Hand der Welt
schlägt, – aus diesem Schmerz seiner besseren
Natur fließt der geheime Balsam, der all jene
Wunden heilen wird. Immer wieder hat er
gegen sich selbst gekämpft und die Fesseln
gelöst, die seine eigenen Hände um hilflose
Glieder gelegt hatten; und wenn er ein großes
Volk mit dem Schwerte zwang, das Gift, das
er ihm bot, zu trinken, nur um schnöden
Geldgewinn, so rüttelte er sich doch selbst
auf zur Erkenntnis seiner Tat und suchte sie
wieder gutzumachen. Dies zeigt, daß an scheinbar
öden, unfruchtbaren Stellen verborgene
Quellen von Menschlichkeit fließen. Es zeigt,
daß der wahre Kern seiner Natur, der all diese
Feigheit und Grausamkeit überleben kann,
nicht Selbstsucht ist, sondern Ehrfurcht vor114
selbstlosen Idealen. Wir würden sowohl Europa
als auch uns selbst unrecht tun, wenn wir sagten,
es hätte den modernen Osten nur durch die
bloße Schaustellung seiner Macht bestrickt.
Durch den Rauch der Kanonen und durch den
Staub der Märkte hat das Licht seiner sittlichen
Natur hell geleuchtet und uns das Ideal sittlicher
Freiheit gebracht, das tiefere Grundlagen
hat als gesellschaftliche Konventionen,
und dessen Wirkungsbereich die ganze Welt
ist.
Der Osten hat durch seine Abneigung hindurch
instinktiv gefühlt, daß er viel von Europa
zu lernen hat, nicht nur in bezug auf die materiellen
Mittel seiner Macht, sondern auch auf
ihre inneren Quellen, die dem Geist und der
sittlichen Natur des Menschen angehören.
Europa hat uns gelehrt, daß wir neben den
Pflichten gegen die Familie und den Stamm
höhere haben gegen die Allgemeinheit; es hat
uns die Heiligkeit des Gesetzes gelehrt, das die
Gesellschaft unabhängig macht von der Laune
des einzelnen, ihr dauernder Fortschritt und
allen Menschen in allen Lebenslagen gleiches
Recht sichert. Vor allem hat Europa in jahrhundertelangem115
Leiden und Kämpfen das
Banner der Freiheit hochgehalten, der Freiheit
des Gewissens, der Freiheit des Denkens
und Handelns, der Freiheit für seine Ideale in
der Kunst und Literatur. Und weil sich Europa
unsere tiefe Achtung erworben hat, ist es so
gefährlich für uns geworden da, wo es schwach
und falsch ist, – gefährlich wie Gift, das man
uns in unsere beste Speise mischt. Es gibt eine
Rettung für uns, auf die wir hoffen können:
wir können Europa selbst als Bundesgenossen
anrufen im Kampf gegen seine Verführungen
und gewaltsamen Übergriffe; denn da es
immer sein sittliches Ideal hochgehalten hat,
an dem wir es messen und seinen Abfall ihm
nachweisen können, so können wir es vor sein
eigenes Gericht fordern und es beschämen, und
solche Scham ist das Zeichen wahren Adelsstolzes.
Doch wir fürchten, daß das Gift wirksamer
ist als die Speise, und daß das, was sich heute
als Kraft äußert, nicht Zeichen von Gesundheit,
sondern vom Gegenteil ist. Wir fürchten,
daß das Böse, wenn es so ungeheure Formen
annimmt, einen verhängnisvollen Zauber ausübt,116
und wenn es auch sicher durch sein abnormes
Mißverhältnis das Gleichgewicht verliert,
so ist doch das Unheil, das es vor seinem
Sturz anrichtet, vielleicht nicht wieder gutzumachen.
Daher bitte ich euch, habt die Kraft des
Glaubens und die Klarheit des Geistes einzusehen,
daß der schwerfällige Bau des modernen
Fortschritts, der durch die eisernen Klammern
der Nützlichkeit zusammengehalten wird
und auf den Rädern des Ehrgeizes rollt, nicht
lange halten kann. Es werden sicher Zusammenstöße
kommen, denn er muß auf den
Schienen der Organisation laufen, er kann
seinen Weg nicht frei wählen, und wenn er
einmal entgleist, entgleist mit ihm der ganze
Wagenzug. Es wird ein Tag kommen, wo er in
Trümmer fallen und zu einer ernstlichen Verkehrshemmung
in der Welt werden wird.
Sehen wir nicht schon jetzt Anzeichen davon?
Hören wir nicht eine Stimme durch den Lärm
des Krieges, durch das Haßgeschrei, das Jammern
der Verzweiflung, durch das Aufrühren
des unsagbaren Schmutzes, der sich jahrhundertelang
auf dem Boden der modernen Zivilisation117
angesammelt hat, eine Stimme, die
unserer Seele zuruft, daß der Turm der nationalen
Selbstsucht, der sich Patriotismus nennt
und sein Banner des Verrats frech zum Himmel
wehen läßt, ins Schwanken geraten und mit
gewaltigem Krach zusammenstürzen wird,
durch seine eigene Masse herabgezogen, so daß
seine Fahne den Staub küßt und sein Licht
erlischt? Meine Brüder, wenn die roten
Flammen dieses gewaltigen Brandes prasselnd
ihr Gelächter zu den Sternen schicken, setzt ihr
euer Vertrauen auf die Sterne und nicht auf
das vernichtende Feuer. Denn wenn dieser
Brand sich verzehrt hat und erlischt und einen
Aschenhaufen als Denkzeichen zurückläßt,
wird das ewige Licht wieder im Osten leuchten
– im Osten, wo das Morgenlicht der Menschheitsgeschichte
geboren ist. Und wer weiß, ob
nicht dieser Tag schon dämmert, ob nicht am
östlichen Horizont Asiens die Sonne schon
aufgegangen ist? Dann begrüße ich wie die
Sänger meiner Vorfahren das Morgenrot dieser
östlichen Sonne, die bestimmt ist, noch einmal
die ganze Welt zu erleuchten.
Ich weiß, meine Stimme ist zu schwach, sich118
über den Lärm dieser hastenden Zeit zu erheben,
und es ist leicht für jeden Gassenbuben,
mir das Wort »unpraktisch« nachzuwerfen. Es
bleibt an mir kleben und läßt sich nicht abwischen
und bewirkt, daß alle achtbaren Menschen
über mich hinwegsehen. Ich weiß, welche
Gefahr man bei der robusten Menge läuft,
wenn man Idealist genannt wird, heutzutage,
wo Throne ihre Würde verloren haben und
Propheten ein Anachronismus geworden sind,
wo das Geschrei des Marktes alle anderen
Stimmen übertönt. Doch als ich eines Tages an
der äußeren Häusergrenze der Stadt Jokohama
stand, die von modernen Dingen strotzte, und
die Sonne langsam hinabtauchen sah in euer
südliches Meer, als ich es in seiner stillen Majestät
daliegen sah zwischen euren mit Fichten
bedeckten Hügeln, – als ich den großen Fudschijama
am goldenen Horizont verblassen sah
wie einen Gott, der von seinem eigenen Glanz
überwältigt wird – da quoll die Musik der
Ewigkeit herauf zu mir durch das Abendschweigen,
und ich wußte, daß Himmel und
Erde mit all ihrer Schönheit auf seiten der
Dichter und Idealisten sind, und nicht auf119
seiten der Marktleute mit ihrer derben Verachtung
für alles Gefühlswesen; ich wußte,
daß der Mensch, nachdem er eine Zeitlang
seinen göttlichen Ursprung vergessen hat, sich
wieder daran erinnern wird, daß der Himmel
stets in Berührung mit seiner Erde ist und sie
nicht für immer den raubgierigen Wölfen
unserer heutigen Zeit preisgibt.
120
NATIONALISMUS IN INDIEN
Indiens wahre Aufgabe liegt nicht auf dem
Gebiete der Politik; sie ist sozialer Art. Und
dies ist nicht nur in Indien, sondern in überwiegendem
Maße bei allen Völkern der Fall.
Ich glaube nicht an ein ausschließlich politisches
Interesse. Im Westen hat die Politik auf
die Ideale beherrschenden Einfluß gehabt, und
wir Inder versuchen, eurem Beispiel zu folgen.
Wir müssen bedenken, daß in Europa, wo die
Völker von Anfang an ihre Rasseneinheit hatten
und wo die Natur den Bewohnern nicht genug
bot, um ihr Bedürfnis zu befriedigen, die Kultur
ganz von selbst den Charakter politischer
und kommerzieller Aggressivität annehmen
mußte. Denn einerseits hatten sie keine innern
Schwierigkeiten, und andererseits hatten sie es
mit Nachbarn zu tun, die stark und raublustig
waren. So schien ihre einzige Aufgabe zu sein,121
nach innen fest zusammenzuhalten und nach
außen eine wachsame und feindselige Haltung
zu wahren. In früheren Zeiten organisierten
sie sich, um zu plündern, heute ist der Geist,
der bei ihnen herrscht, derselbe – sie organisieren,
um die ganze Welt auszubeuten.
Aber seit den ersten Anfängen unserer Geschichte
hat Indien beständig sein Problem vor
Augen gehabt – das Rassenproblem. Jedes
Volk muß sich seiner Mission bewußt sein, und
wir Inder müssen uns klarmachen, daß wir
eine armselige Rolle spielen, wenn wir versuchen,
Politik zu treiben, nur weil wir es noch
nicht fertig gebracht haben, das zu leisten, was
die Vorsehung uns aufgegeben hat.
Vor dies Problem der Rasseneinheit, das wir
so viele Jahre lang zu lösen versucht haben,
seid auch ihr hier in Amerika gestellt. Viele
Leute in diesem Lande fragen mich, wie es
mit den Kastenunterschieden in Indien sei.
Aber wenn sie diese Frage an mich richten,
so tun sie es gewöhnlich mit überlegener Miene.
Und ich fühle mich versucht, unseren amerikanischen
Kritikern dieselbe Frage zu stellen,
nur mit einer kleinen Abänderung: »Was habt122
ihr eigentlich mit dem Indianer und dem Neger
gemacht?« Denn ihnen gegenüber seid ihr über
euren Kastengeist noch nicht hinausgekommen.
Ihr habt gewaltsame Methoden angewandt, um
andere Rassen von euch fernzuhalten, aber solange
ihr hier in Amerika nicht die Frage gelöst
habt, habt ihr kein Recht, Indien zu fragen.
Jedoch trotz der großen Schwierigkeit hat
Indien etwas getan. Es hat versucht, die Rassen
einander anzupassen, die wirklichen Unterschiede,
da wo sie existieren, bestehen zu lassen
und doch eine gemeinsame Basis zu finden.
Diese Basis haben unsere heiligen Männer wie
Nanak, Kabir, Tschaitanja und andere gefunden,
die allen Rassen Indiens den einen Gott
predigten.
Wenn wir die Lösung unseres Problems gefunden
haben, so haben wir damit zugleich
geholfen, das Weltproblem zu lösen. Denn was
Indien gewesen ist, das ist die ganze Welt jetzt.
Die Welt ist im Begriff, durch die technischen
Erleichterungen zu einem einzigen Lande zu
werden. Und der Augenblick kommt, wo ihr
auch nach einer Basis für eure Einheit suchen
müßt, die nicht politischer Art ist. Wenn Indien123
seine Aufgabe gelöst hat, so hat es dies
für die ganze Menschheit getan. Es gibt überhaupt
nur eine Geschichte – die Geschichte
des Menschen. Die Geschichten der Völker sind
nur einzelne Kapitel dieser großen Geschichte.
Und wir Inder wollen gern für eine so große
Sache leiden.
Jedes Individuum hat seine Selbstliebe. Daher
wird es von seinem tierischen Instinkt getrieben,
nur um seines eigenen Interesses willen
mit andern zu kämpfen. Aber der Mensch hat
auch seine höheren Instinkte: Mitgefühl und
Hilfsbereitschaft. Die Menschen, denen es an
dieser höheren sittlichen Kraft fehlt, und die
sich daher nicht mit andern zu einer Gemeinschaft
verbinden können, müssen umkommen
oder in einem Zustande der Erniedrigung
leben. Nur die Völker haben fortgelebt und es
zur Kultur gebracht, in denen dieser Gemeinschaftsgeist
stark lebendig ist. So finden wir,
daß vom Anfang der Geschichte an die Menschen
zu wählen hatten zwischen Kampf und
Gemeinschaft, Eigeninteresse und Allgemeininteresse.
In den Zeiten unserer frühen Geschichte, als124
die geographischen Grenzen des einzelnen
Landes nur klein und die Verkehrsmöglichkeiten
gering waren, hatte auch dies Problem
nur verhältnismäßig geringen Umfang. Es genügte,
wenn die Menschen ihr Gemeinschaftsgefühl
nur innerhalb der Grenzen ihres abgesonderten
Gebiets entwickelten. Zu jenen
Zeiten schlossen sie sich zusammen und kämpften
gegen andere. Aber es war dies sittliche Gefühl
der Gemeinschaft, das die wahre Grundlage
ihrer Größe wurde, auf der sich Kunst,
Wissenschaft und Religion entwickeln konnten.
In jenen frühen Zeiten war die wichtigste
Tatsache, deren der Mensch sich bewußt sein
mußte, daß er in einer engeren Rassengemeinschaft
lebte. Wem diese Tatsache wahrhaft in
sein sittliches Bewußtsein eingegangen war, der
machte sich um die Geschichte verdient.
Die wichtigste Tatsache der heutigen Zeit
ist, daß die verschiedenen Menschenrassen in
nahe Berührung miteinander gekommen sind.
Und wieder haben wir zwischen zwei Wegen
die Wahl: die Frage ist, ob die verschiedenen
Völkergruppen fortfahren sollen einander zu
bekämpfen, oder ob sie versuchen sollen, eine125
Grundlage für Versöhnung und gegenseitige
Hilfe zu finden; ob ewiger Wettstreit oder Zusammenarbeiten
die Losung sein soll.
Ich bin gewiß, daß die, die mit der sittlichen
Kraft der Liebe und dem Ideal einer geistigen
Einheit unter den Völkern begnadet sind, die
am wenigsten von Feindseligkeit den fremden
Nationen gegenüber wissen und Verständnis
und Mitgefühl genug haben, um sich in die
Lage der andern zu versetzen, ich glaube, daß
diese die Geeignetsten sein werden, ihren Platz
in dem kommenden Zeitalter zu behaupten,
während die, die beständig ihren angeborenen
Trieb zu Kampf und Unduldsamkeit pflegen,
untergehen werden. Denn dies ist das Problem,
das jetzt vor uns liegt, und wir müssen unser
höheres Menschentum dadurch beweisen, daß
wir es auf sittlichem Wege lösen. Die riesigen
Organisationen, die dazu dienen, andere anzugreifen
und ihre Angriffe abzuwehren, Geld
zu erringen, indem man andere beiseite stößt,
diese werden uns nicht helfen. Im Gegenteil,
durch ihr zermalmendes Gewicht, ihre ungeheuren
Kosten und ihre ertötende Wirkung auf
das lebendige Menschentum werden sie unsere126
Kraft in dem großzügigeren Leben einer höheren
Kultur ernstlich gefährden.
Als die Nation noch in der Entwicklung begriffen
war, da war die sittliche Kultur der
Brüderlichkeit in geographische Grenzen eingeschlossen,
weil damals jene Grenzen auch
wirkliche Grenzen waren. Jetzt sind sie zu
traditionellen Linien geworden, die nur in der
Einbildung bestehen und den Charakter wirklicher
Schranken verloren haben. So ist die
Zeit gekommen, wo die sittliche Natur des
Menschen in allem Ernst mit dieser wichtigen
Tatsache rechnen oder sich verloren geben
muß. Die erste Folge von diesem Wechsel der
Umstände war, daß die niederen Leidenschaften
des Menschen, Gier und wilder Haß,
jäh emporschäumten. Wenn dies unbegrenzt
weitergeht, wenn die Kriegsrüstungen immer
weiter bis ins Phantastische und Sinnlose gesteigert
werden, wenn Maschinen und Lagerhäuser
mit ihrem Rauch und Schmutz und mit
all ihrer Scheußlichkeit diese schöne Erde
einhüllen, so wird sie in einem Weltbrand ein
selbstmörderisches Ende nehmen. Daher muß
der Mensch die ganze Kraft seiner Liebe und127
seines schauenden Geistes anstrengen, um eine
neue sittliche Ordnung aufzurichten, die die
ganze Menschheit umfaßt und nicht nur einzelne
Nationen, die immer nur einen Bruchteil
ausmachen. Der Ruf ergeht heute an jeden
einzelnen, sich und seine Umgebung vorzubereiten
für die Morgendämmerung einer neuen
Weltperiode, wo der Mensch in der geistigen
Einheit aller menschlichen Wesen seine Seele
entdecken wird.
Wenn es überhaupt dem Westen beschieden
ist, aus diesem Gestrüpp der tieferen Abhänge
sich zu dem geistigen Gipfel der Menschheit
emporzuarbeiten, so ist es, glaube ich, die besondere
Mission Amerikas, diese Hoffnung
Gottes und der Menschheit zu erfüllen. Ihr
seid das Land der Erwartung, das über das
Gegebene hinausstrebt. Europa hat seine geistigen
Gewohnheiten und Konventionen. Aber
Amerika hat sich bis jetzt noch nirgends festgelegt.
Mir ist klar geworden, wie frei Amerika
von allen Traditionen der Vergangenheit ist,
und ich weiß die Neigung zum Experimentieren
als ein Zeichen seiner Jugend zu
schätzen. Amerikas Ruhm und Größe gründet128
sich mehr auf die Zukunft als auf die Vergangenheit,
und wer die Gabe des Hellsehens
hat, wird das Amerika der Zukunft lieben
müssen.
Amerika hat die Aufgabe, dem Osten gegenüber
die westliche Kultur zu rechtfertigen.
Europa hat den Glauben an die Menschheit
verloren und ist mißtrauisch und kränklich
geworden. Amerika dagegen ist weder pessimistisch
noch blasiert. Ihr wißt als Volk, daß,
wenn man das Gute hat, man das Bessere und
Beste suchen kann, und daß man um so mehr
zu wissen strebt, je mehr man weiß. Traditionen
aber und Gewohnheiten bewirken das
Gegenteil. Und es gibt Gewohnheiten, die nicht
nur durch träges Beharren hemmen, sondern
anmaßend und aggressiv sind. Sie sind nicht
bloße Mauern, sondern stachlige Distelhecken.
Europa hat jahrelang diese Hecken von Gewohnheiten
großgezogen, bis sie es dicht und
stark und hoch eingeschlossen haben. Der Stolz
auf seine Traditionen hat tief in seinem Herzen
Wurzel geschlagen. Ich will nicht behaupten,
daß dieser Stolz unberechtigt ist. Aber jede
Art von Stolz macht schließlich blind. Wie129
bei allen künstlichen Reizmitteln ist seine erste
Wirkung eine Erhöhung des Lebensgefühls,
aber bei vermehrter Dosis wird das Bewußtsein
getrübt und ein Rausch erzeugt, der es
irreführt. Europas Herz hat sich allmählich
verhärtet in dem Stolz auf seine Traditionen.
Es kann nicht nur nicht vergessen, daß es der
kultivierte Westen ist, sondern ergreift auch
jede Gelegenheit, andern die Tatsache ins Gesicht
zu schleudern, um sie zu demütigen. Dadurch
macht es sich unfähig, sowohl dem
Osten sein Bestes zu geben als auch im rechten
Geiste die Weisheit aufzunehmen, die der
Osten seit Jahrhunderten aufgespeichert hat.
In Amerika haben nationale Gewohnheiten
und Traditionen noch nicht Zeit gehabt, ihre
klammernden Wurzeln um euer Herz zu
schlagen. Ihr habt beständig die Nachteile auf
eurer Seite empfunden und beklagt, wenn ihr
eure nomadische Ruhelosigkeit mit den festen
Traditionen Europas vergleicht, jenes Europas,
das das Bild seiner Größe so wirkungsvoll
vom Hintergrund seiner Vergangenheit
sich abheben lassen kann. Aber in dieser gegenwärtigen
Übergangszeit, wo ein neues Zeitalter130
der Kultur seinen Trompetenruf erschallen
läßt an alle Völker der Welt in eine unbegrenzte
Zukunft hinein, da wird gerade diese
Ungebundenheit euch befähigen, seinem Ruf
zu folgen und das Ziel zu erreichen, das
Europa erstrebte, aber zu dem es auf halbem
Wege steckenblieb. Denn es ließ sich durch
den Stolz auf seine Macht und durch die Gier
nach Besitz von seiner Bahn ablenken.
Nicht nur die Freiheit der einzelnen von
festen Denkgewohnheiten, sondern auch die
Freiheit eurer Geschichte von allen Verwicklungen,
die sie hätten beflecken können, macht
euch fähig, die Bannerträger der künftigen
Kultur zu sein. Alle großen Nationen Europas
haben irgendwo in der Welt ihre Opfer. Dies
ertötet nicht nur ihre seelische, sondern auch
ihre intellektuelle Sympathie, die zum Verständnis
fremder Rassen so nötig ist. Die Engländer
können Indien nie wahrhaft verstehen,
weil ihr Geist in bezug auf dies Land nicht
frei von eigennützigem Interesse ist. Wenn
man England mit Deutschland oder Frankreich
vergleicht, so findet man, daß es die
kleinste Anzahl von Gelehrten aufzuweisen hat,131
die indische Literatur und Philosophie mit
einem gewissen Grad von Verständnis und
Gründlichkeit studiert haben. Diese Haltung
von Gleichgültigkeit und Verachtung ist
natürlich, wo das Verhältnis unnormal und
auf nationalen Stolz und Egoismus gegründet
ist. Aber eure Geschichte ist selbstlos gewesen,
und daher habt ihr Japan helfen können, als
es nach westlicher Kultur verlangte; daher
kann auch China in seiner gegenwärtigen so
schwer wie noch nie bedrohten Lage auf euch
seine beste Hoffnung setzen. Ja, ihr tragt die
ganze Verantwortung für eine große Zukunft,
weil ihr nicht in den Klauen einer engherzigen
Vergangenheit zurückgehalten werdet. Daher
muß von allen Völkern der Erde Amerika am
festesten diese Zukunft ins Auge fassen; es
darf seinen Blick nicht trüben lassen, und sein
Glaube an die Menschheit muß jugendlich
stark bleiben.
Eine Ähnlichkeit besteht zwischen Amerika
und Indien: beide müssen verschiedene Rassen
zu einer Einheit verschmelzen.
In meinem Lande haben wir versucht, etwas
zu finden, was allen Rassen gemeinsam ist und132
worauf sich ihre wirkliche Einheit gründen
läßt. Eine Nation, die diese Einheit auf eine
rein politische oder wirtschaftliche Basis zu
gründen sucht, wird finden, daß diese Basis
nicht genügt. Denkende und einflußreiche
Männer werden entdecken, worin diese geistige
Einheit besteht, sie werden sich ihr Bild
im Geiste ausmalen und es ihrem Volk verkünden.
Indien hat nie den wirklichen Sinn für Nationalismus
gehabt. Obgleich man mich von
klein auf gelehrt hat, daß der Götzendienst
der Nation fast noch besser ist als die Ehrfurcht
vor Gott und der Menschheit, so bin ich,
glaube ich, doch dieser Lehre entwachsen, und
ich bin überzeugt, daß meine Landsleute ihr
Indien in Wahrheit dadurch gewinnen werden,
daß sie gegen eine Lehre kämpfen, die ihnen
sagt, ein Land stände höher als die Ideale der
Menschheit.
Der gebildete Inder versucht heutzutage
Lehren aus der Geschichte zu entnehmen, die
den Lehren unserer Vorfahren widersprechen.
Ja, der Osten versucht, sich eine Geschichte
anzueignen, die gar nicht das Ergebnis seines133
eigenen Lebens ist. Japan zum Beispiel glaubt,
dadurch mächtig zu werden, daß es europäische
Methoden übernimmt, aber nachdem es
sein eigenes Erbe vergeudet hat, wird es nur
die geborgten Waffen der äußeren Kultur in
der Hand behalten. Denn es hat sich nicht aus
sich heraus entwickelt.
Europa hat seine Vergangenheit. Europas
Stärke liegt daher in seiner Geschichte. Wir in
Indien müssen uns klarmachen, daß wir nicht
die Geschichte eines andern Volkes übernehmen
können und daß wir Selbstmord begehen,
wenn wir unsere eigene ersticken. Wer
seinem Leben künstlich etwas Fremdes aufsetzt,
der erdrückt es.
Und daher glaube ich, daß es nicht gut für
Indien ist, wenn es sich mit der westlichen
Kultur auf ihrem Felde zu messen sucht. Wenn
wir dagegen der uns vom Schicksal gewiesenen
Bahn treu bleiben, so werden uns alle
Schmähungen, mit denen man uns überhäufen
mag, reichlich vergütet werden.
Es gibt Lehren, die uns unterweisen und uns
zu geistiger Arbeit tüchtig machen. Diese sind
einfach und können mit Nutzen erworben und134
angewandt werden. Aber es gibt andere, die
uns tiefer berühren und unsere Lebensrichtung
ändern. Bevor wir sie annehmen und ihren
Wert mit unserem eigenen Erbe bezahlen,
müssen wir haltmachen und ernsthaft nachdenken.
Es kommen in der menschlichen Geschichte
zuweilen Perioden, wo gewaltige Ereignisse
wie Feuerwerke uns blenden durch
ihre Stärke und Schnelligkeit. Sie verlachen
nicht nur die bescheidenen Lampen unseres
Heims, sondern auch die ewigen Sterne. Aber
laßt uns durch ihre Herausforderung nicht zu
dem Wunsch gereizt werden, unsere Lampen
wegzuwerfen. Laßt uns geduldig den gegenwärtigen
Schimpf ertragen und bedenken, daß
diese Feuerwerke wohl hellen Glanz, aber keine
Dauer haben wegen ihrer großen Explosionskraft,
die die Ursache ihrer Stärke, aber auch
zugleich die ihres schnellen Erlöschens ist. Sie
verbrauchen ein verhängnisvolles Quantum von
Energie und Substanz im Verhältnis zu dem,
was sie leisten und einbringen.
Jedenfalls sind unsere Ideale durch unsere
eigene Geschichte entwickelt worden, und
wenn wir ein Feuerwerk aus ihnen machen135
wollten, so würde es doch nur kläglich ausfallen,
da sie aus anderem Stoff sind als eure,
wie auch ihr sittliches Ziel ein anderes ist.
Wenn wir den Wunsch hegen, unsere ganze
Habe gegen politischen Nationalismus einzutauschen,
so ist dies ebenso unsinnig, als wenn
die Schweiz ihr Leben an die Erfüllung des
ehrgeizigen Wunsches setzte, eine Flotte zu
bauen, die es mit der englischen aufnehmen
könnte. Der Fehler, den wir machen, ist der,
daß wir glauben, es gäbe nur einen Weg zu
menschlicher Größe – den, den wir heute zu
unserem Schmerz als breite Straße über die
Welt des Westens laufen sehen und auf dem
freche Anmaßung die Führerin ist.
Wir müssen die Gewißheit haben, daß eine
Zukunft vor uns liegt und daß diese Zukunft
die erwartet, welche reich an sittlichen Idealen
sind und nicht an bloßen Dingen. Und es ist
das Vorrecht des Menschen, für Früchte zu
arbeiten, die er noch nicht sogleich sammeln
kann, und sein Leben nicht durch den Erfolg
des Augenblicks bestimmen zu lassen oder
auch durch eine vorsichtige, in ihren Zielen
begrenzte Vergangenheit, sondern durch eine136
unendliche Zukunft, die unsere höchsten Ideale
in sich birgt.
Wir müssen erkennen, daß die göttliche Vorsehung
selbst den Westen nach Indien führte.
Und doch muß jemand kommen, der dem
Westen den Osten deutet und ihm klarmacht,
daß der Osten sein Teil beizusteuern hat zur
Geschichte der Kultur. Indien kommt nicht
als Bettler zum Westen. Und mag auch der
Westen dies glauben, so rate ich doch nicht,
daß wir die westliche Kultur verschmähen
und uns in stolzer Unabhängigkeit absondern.
Nein, laßt uns uns innerlich mit ihm tief verbinden.
Wenn die Vorsehung England dazu
ausersehen hat, daß es diesen Bund, diesen
inneren Bund, stifte und leite, so will ich mich
dem in aller Demut beugen. Ich habe einen
großen Glauben an die menschliche Natur, und
so glaube ich auch, daß der Westen seine wahre
Mission erkennen wird. Ich spreche mit Bitterkeit
von der westlichen Kultur, wenn ich sehe,
wie sie das ihr Anvertraute verrät und ihrem
eigenen Ziel entgegenarbeitet. Der Westen darf
sich nicht zu einem Fluch für die Welt
machen, indem er seine Macht zu selbstischen137
Zwecken braucht, sondern dadurch, daß er die
Unwissenden belehrt und den Schwachen hilft,
sollte er sich vor der Gefahr schützen, die dem
Starken drohen kann, wenn er den Schwachen
stark genug werden läßt, seinem Eindringen
zu widerstehen. Auch muß er seinen Materialismus
nicht als das Höchste und Letzte predigen,
sondern er muß erkennen, daß er sich
um die Menschheit verdient macht, wenn er
den Geist von der Tyrannei der Materie befreit.
Ich wende mich nicht gegen eine Nation im
besonderen, sondern gegen Nationen im allgemeinen.
Was ist eine Nation?
Es ist die Erscheinung eines ganzen Volkes
als organisierte Macht. Diese Organisation zielt
beständig dahin, daß die Bevölkerung stark
und leistungsfähig werde. Aber dies rastlose
Streben nach Stärke und Leistungsfähigkeit
entzieht der höheren Natur des Menschen, die
ihn aufopfernd und schöpferisch machte, ihre
Kraft. Seine Opferfähigkeit wird von ihrem
eigentlichen, sittlichen und lebendigen Ziel abgelenkt
auf ein mechanisches und lebloses, die
Erhaltung dieser Organisation. Und doch fühlt
er in der Erreichung dieses Zieles die ganze138
Genugtuung sittlicher Erhebung und wird daher
der Menschheit äußerst gefährlich. Er
fühlt sich in seinem Gewissen beruhigt, wenn
er seine Verantwortlichkeit auf diese Maschine
schieben kann, die eine Schöpfung seines Intellekts
und nicht seiner ganzen sittlichen Persönlichkeit
ist. So kommt es, daß das Volk,
welches die Freiheit liebt, in einem großen Teil
der Welt die Sklaverei fortbestehen läßt mit
dem wohltuenden Gefühl des Stolzes, seine
Pflicht getan zu haben. Menschen, die von
Natur gerecht sind, können sowohl im Handeln
wie im Denken grausam ungerecht sein und
dabei das Gefühl haben, daß sie den Menschen
nur zu dem verhelfen, was sie verdienen.
Menschen, die sonst ehrlich sind, können, ohne
zu wissen, was sie tun, andern dauernd ihr
Menschenrecht auf höhere Entwicklung rauben
und dabei die Beraubten schmähen, daß sie
keine bessere Behandlung verdient hätten. Wir
haben im täglichen Leben gesehen, wie sogar
kleine Geschäfts- und Berufsorganisationen
Menschen, die von Natur nicht schlecht sind,
gefühllos machen, und wir können uns wohl
vorstellen, welch eine Zerstörung in der sittlichen139
Welt angerichtet wird, wenn ganze Völker
sich mit rasendem Eifer organisieren, um
Macht und Reichtum zu gewinnen.
Der Nationalismus ist eine sehr schwere Gefahr.
Er ist seit Jahren die Ursache von allen
Leiden Indiens. Und da wir von einer Nation
regiert und beherrscht werden, die in ihrer
Haltung ausschließlich politisch ist, haben wir
trotz des Erbes unserer Vergangenheit versucht,
den Glauben in uns zu entwickeln, daß wir
auch vielleicht eine politische Aufgabe haben.
Es gibt in Indien verschiedene Parteien, die
ihre verschiedenen Ideale haben. Einige streben
nach politischer Unabhängigkeit. Andere glauben,
daß die Zeit dazu noch nicht gekommen
ist, aber sie meinen, Indien sollte die Rechte
der englischen Kolonien haben. Sie wollen
soweit wie möglich Selbstregierung.
Als die politische Bewegung in Indien anfing,
da gab es noch keinen Parteistreit wie
heute. Damals gab es eine Partei, die sich Indischer
Kongreß nannte. Sie hatte kein wirkliches
Programm; sie wies auf einige Mißstände
hin und forderte ihre Abstellung von
seiten der Behörden. Sie wünschte eine größere140
Vertretung im Regierungsrat und mehr Freiheit
in der Gemeindeverwaltung. Sie verlangte
lauter Kleinigkeiten, aber sie hatte kein aufbauendes
Ideal. Daher konnte ich mich für ihr
Vorgehen nicht begeistern. Es war meine
Überzeugung, daß das, was Indien am meisten
braucht, schöpferische, aus seinem eigenen
Geist geborene Arbeit ist. Und bei dieser Arbeit
müssen wir alle Gefahren auf uns nehmen und
selbst noch in des Verfolgers Rachen nicht aufhören,
unsere uns vom Schicksal auferlegte
Pflicht zu tun, und so durch Leiden und Mißerfolg
bei jedem Schritt moralische Siege gewinnen.
Wir müssen denen über uns zeigen,
daß wir sittliche Kraft und Stärke haben, für
die Wahrheit zu leiden. Haben wir aber selber
nichts aufzuweisen, so können wir nur betteln.
Es würde verderblich für uns sein, wenn uns
die Gaben, um die wir bitten, sogleich gewährt
würden, und ich habe meinen Landsleuten
immer wieder gesagt, daß sie sich zusammenschließen
sollen, nicht um zu betteln, sondern
um Möglichkeiten zu schaffen, daß unser Geist
der Selbstaufopferung sich wirksam erweisen
kann.
141Der Indische Kongreß verlor jedoch an Einfluß,
da das Volk bald sah, wie nutzlos die
Halbheit seiner politischen Bestrebungen war.
Die Partei spaltete sich, und es bildeten sich
die Radikalen, die die bisherige Methode des
Bittens – die leichteste Methode, sich der Verantwortlichkeit
gegen sein Land zu entschlagen
– verwarfen und für absolute Freiheit des
Handelns eintraten. Ihre Ideale gründeten sich
auf die Geschichte des Westens. Sie hatten
kein Gefühl für die besonderen Probleme
Indiens. Sie erkannten die offenbare Tatsache
nicht an, daß unsere Gesellschaftsordnung uns
unfähig macht, es mit den fremden Völkern
aufzunehmen. Denn was würde aus uns werden,
wenn England irgendwie aus Indien vertrieben
würde? Wir würden nur andern Nationen
zum Opfer fallen. Dieselben sozialen
Übel würden bestehen bleiben. Was wir in
Indien erstreben müssen, ist dies: wir müssen
suchen, mit den sozialen Sitten und Idealen
aufzuräumen, die uns unsere Selbstachtung genommen
und uns von denen, die uns beherrschen,
ganz abhängig gemacht haben – mit
dem Kastensystem und mit der blinden und142
trägen Gewohnheit, uns auf die Autorität
von Traditionen zu verlassen, die heutzutage
vernunftwidrige Anachronismen geworden
sind.
Ich lenke noch einmal eure Aufmerksamkeit
auf die Schwierigkeiten hin, mit denen Indien
zu kämpfen gehabt hat. Sein Problem war das
Weltproblem im kleinen. Indien hat eine zu
große Ausdehnung und beherbergt zu verschiedene
Rassen. Es sind in ihm viele Länder
in einen geographischen Behälter zusammengepackt.
Es ist gerade das Gegenteil von dem,
was Europa in Wahrheit ist: ein einziges Land,
das in viele Länder zerteilt ist. So hat Europa
bei seinem Wachstum und Fortschritt den
doppelten Vorteil gehabt: es hatte die Stärke
der Vielheit und die Stärke der Einheit. Indien
dagegen, das von Natur eine Vielheit und nur
durch Zufall eine Einheit ist, hat immer unter
dem losen Zusammenhang der ersteren und
unter der Schwäche der letzteren gelitten.
Wahre Einheit ist wie eine runde Kugel, sie
rollt von selbst und trägt ihr Gewicht mit
Leichtigkeit; aber Vielheit ist ein Ding mit
vielen Ecken und Kanten, das man mit aller143
Kraft ziehen und vorwärtsstoßen muß. Es muß
zu Indiens Rechtfertigung gesagt werden, daß
es diese Vielheit nicht selbst geschaffen hat,
es hat sie von Anfang seiner Geschichte an
als eine Tatsache hinnehmen müssen. In
Amerika und Australien hat Europa sich sein
Problem dadurch vereinfacht, daß es die Urbevölkerung
fast ganz ausrottete. Und noch
heute macht sich dieser Ausrottungsgeist bei
den Europäern bemerkbar, indem sie Fremde
ungastlich ausschließen, sie, die selbst als
Fremde kamen in die Länder, die sie nun beherrschen.
Aber Indien duldete von Anfang an
die Verschiedenheit der Rassen, und diesen
Geist der Duldsamkeit hat es in seiner ganzen
Geschichte gezeigt.
In ihm hat auch sein Kastensystem seinen
letzten Grund. Denn Indien hat immer versucht,
eine soziale Einheit zu entwickeln, die
alle die verschiedenen Völker zusammenhielt
und ihnen doch die Freiheit ließ, die bei ihnen
bestehenden Unterschiede zu wahren. Das Band
war so lose wie möglich, und doch so fest, wie
die Umstände es gestatteten. So ist etwas wie
ein sozialer Bund von Vereinigten Staaten entstanden,144
dessen gemeinsamer Name Hinduismus
ist.
Indien hat gefühlt, daß Rassenunterschiede
sein müssen und sollen, was auch ihre Nachteile
sein mögen, und daß wir nie die Natur in
enge, uns bequeme Grenzen zwingen können,
ohne es eines Tages teuer bezahlen zu müssen.
Soweit war Indien im Recht; aber es bedachte
nicht, daß die Unterschiede, die die Menschen
trennen, nicht wie Gebirgsgrenzen sind, die für
immer bestehen, sondern fließend mit des
Lebens Fluß und Lauf, Gestalt und Größe
wechseln.