Nationalismus
出版:Nationalismus
Nationalismus-1
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RABINDRANATH TAGORE
NATIONALISMUS
MÜNCHEN
KURT WOLFF VERLAG
Einzig autorisierte deutsche Ausgabe. Nach der
von Rabindranath Tagore selbst veranstalteten
englischen Ausgabe ins Deutsche übertragen von
Helene Meyer-Franck
16.–25. Tausend
Copyright 1918 by Neuer Geist-Verlag in Leipzig
5
NATIONALISMUS IM WESTEN
Die Geschichte der Menschheit gestaltet
sich nach den Schwierigkeiten, denen sie
begegnet. Diese stellen uns Aufgaben, die wir
lösen müssen, wenn wir nicht herabsinken oder
zugrunde gehen wollen.
Diese Schwierigkeiten sind verschieden bei
den verschiedenen Völkern der Erde, und die
Art, wie sie sie überwinden, macht ihren besonderen
Charakter aus.
Die Skythen des alten Asiens hatten mit der
Kargheit ihrer natürlichen Hilfsquellen zu
kämpfen. Als die bequemste Lösung erschien
ihnen, daß sie ihre ganze Bevölkerung, Männer,
Frauen und Kinder, zu Räuberbanden organisierten.
Und so wurden sie denen unwiderstehlich,
deren Hauptleistung die friedlich aufbauende
Arbeit bürgerlicher Gemeinschaft
war.
Aber zum Glück für den Menschen ist der
6bequemste Weg nicht der ihm gemäßeste Weg.
Wenn er nur seinem Instinkt zu folgen hätte,
wie eine Schar hungriger Wölfe, wenn er nicht
zugleich sittliches Wesen wäre, so würden jene
Räuberhorden schon inzwischen die ganze Erde
verheert haben. Aber der Mensch muß, wenn
er Schwierigkeiten gegenübersteht, die Gesetze
seiner höheren Natur anerkennen, deren Nichtbeachtung
ihm zwar augenblicklichen Erfolg
bringen kann, aber ihn sicher zum Untergang
führt. Denn das, was der niedern Natur nur
Hindernis ist, ist der höhern Lebensform eine
Möglichkeit zu höherer Entwicklung.
Indien hat vom Anfang seiner Geschichte
an seine Aufgabe gehabt: das Rassenproblem.
Ethnologisch verschiedene Rassen sind in diesem
Lande in nahe Berührung miteinander gekommen.
Die Tatsache war zu allen Zeiten und
ist noch heute die wichtigste in unserer Geschichte.
Es ist unsere Aufgabe, ihr ins Gesicht
zu sehen und unsern Menschenwert dadurch
zu erweisen, daß wir sie im tiefsten
Sinne lösen. Solange wir nicht diese Aufgabe
erfüllt haben, wird uns Glück und Gedeihen
versagt sein.
7Es gibt andere Völker in der Welt, die in
der sie umgebenden Natur Hindernisse zu überwinden
haben oder von mächtigen Nachbarn
bedroht sind. Sie haben ihre Kräfte organisiert,
nicht nur so weit, daß ihnen von der Natur
und von menschlichen Nachbarn keine Gefahr
mehr drohen kann, sondern daß sie selbst durch
ihre überschüssige Kraft zu einer Gefahr für
andere geworden sind. Aber die Geschichte
unseres Landes, wo die Schwierigkeiten innerer
Art sind, ist eine Geschichte beständiger sozialer
Schlichtung und Anpassung, nicht eine Geschichte
zu Verteidigung und Angriff organisierter
Macht.
Weder die farblose Unbestimmtheit des Kosmopolitismus
noch die leidenschaftliche Selbstvergötterung
des Nationalitätskults ist das Ziel
der menschlichen Geschichte. Und Indien hat
versucht, seine Aufgabe zu erfüllen, indem es
einerseits die Verschiedenheiten in eine soziale
Ordnung gebracht und andererseits das Bewußtsein
der Einheit im Geist entwickelt hat.
Es hat schwere Fehler begangen, indem es zu
starre Schranken zwischen den Rassen aufrichtete
und durch das Kastenwesen gewisse Stände
8dauernd herabdrückte und zur Minderwertigkeit
verurteilte; es hat oft den Geist seiner
Kinder verkrüppelt und ihr Leben eingeengt,
um sie den sozialen Formen anzupassen; aber
Jahrhunderte hindurch hat es immer wieder
neue Versuche gemacht und Ausgleichungen
geschaffen.
Indiens Aufgabe war die einer Wirtin, die
für zahlreiche Gäste zu sorgen hat, deren Gewohnheiten
und Bedürfnisse alle voneinander
verschieden sind. Dies bringt endlose Schwierigkeiten
mit sich, deren Hebung nicht nur
Takt erfordert, sondern wahre Teilnahme und
das Bewußtsein der Einheit des Menschengeschlechts.
Dieses Bewußtsein allgemein zu
machen, haben schon seit der frühen Zeit der
Upanishads bis in unsere Zeit große religiöse
Lehrer geholfen, deren Ziel es war, alle
menschlichen Unterschiede auszulöschen im
überströmenden Gottesbewußtsein. Unsere Geschichte
besteht fürwahr nicht in dem Aufblühen
und Zerfallen von Königreichen, in
Kämpfen um politische Übermacht. Bei uns
sind die Berichte von solchen Ereignissen verachtet
und vergessen, denn sie machen keineswegs
9die wahre Geschichte unseres Volkes aus.
Unsere Geschichte berichtet von sozialem
Leben und von der Verwirklichung religiöser
Ideale.
Aber wir fühlen, daß unsere Arbeit noch
nicht getan ist. Die Flut der Welt ist über unser
Land hingefegt, neue Elemente sind uns zugeströmt,
und Anpassungen größeren Stils sind
nötig.
Wir fühlen dies um so mehr, als die Lehre
und das Beispiel des Westens dem, was wir für
unsere Aufgabe halten, gerade zuwiderläuft.
Im Westen wird durch den nationalen Mechanismus
von Handel und Politik die Menschheit
schön ordentlich in Ballen zusammengepreßt,
die ihren Nutzen und hohen Marktwert haben;
sie sind mit eisernen Reifen umspannt, mit
Aufschrift versehen und mit wissenschaftlicher
Sorgfalt und Genauigkeit sortiert. Gott schuf
doch wahrlich den Menschen, daß er menschlich
sei; aber dieses moderne Produkt ist so
wunderbar regelmäßig zugeschnitten und poliert,
hat so sehr den Charakter der Fabrikware,
daß der Schöpfer Mühe haben wird, es
als ein geistiges Wesen zu erkennen, als das10
Geschöpf, das er nach seinem göttlichen Bilde
schuf.
Aber ich greife schon vor. Was ich sagen
wollte, ist dies. Nehmt es, wie ihr wollt: dieses
Indien hat seit wenigstens fünf Jahrtausenden
versucht, in Frieden zu leben, und dies Indien
war ohne Politik, ohne Nationalismus; sein
einziger Ehrgeiz war, diese Welt als beseelt zu
erkennen und jeden Augenblick seines Lebens
zu leben in demutsvoller Anbetung und im
frohen Bewußtsein der ewigen und persönlichen
Verwandtschaft mit ihr. Über diesen abgelegenen
Teil der Menschheit, der die Harmlosigkeit
des Kindes und die Weisheit des
Alters hatte, brach die Nation des Westens
herein.
Bei allen Kämpfen und Ränken und Betrügereien
seiner früheren Geschichte war Indien
selbst unbeteiligt geblieben. Denn seine
Heimstätten, seine Felder, seine Tempel, seine
Schulen, in denen Lehrer und Schüler in Einfachheit
und Frömmigkeit und stiller Arbeit
zusammenlebten, seine Dörfer mit ihrer friedlichen
Selbstverwaltung und ihren einfachen
Gesetzen – alles dies gehörte wirklich zu Indien.11
Aber nicht seine Throne. Sie berührten es
so wenig wie die Wolken, die über sein Haupt
hingingen, bald mit purpurner Pracht gefärbt,
bald schwarz, gewitterdrohend. Oft hatten sie
Verheerungen in ihrem Gefolge, aber sie waren
wie Naturkatastrophen, deren Spuren bald verschwinden.
Aber diesmal war es anders. Diesmal war es
kein bloßes Dahinjagen über die Oberfläche
seines Lebens – ein Dahinjagen von Reitern
und Fußsoldaten, von Elefanten mit reichen
Schabracken, weißen Zelten und Sonnendächern,
von Reihen geduldiger Kamele, die
die Lasten des königlichen Hofes trugen, von
Flötenbläsern und Paukenschlägern, Marmordomen
und Moscheen, Palästen und Gräbern.
Dies alles kam und ging sonst wie Perlen von
schäumendem Wein, und mit ihm die Geschichten
von Verrat und Treue, von plötzlichem
Aufstieg und jähem Fall. Diesmal aber
trieb die Nation des Westens die Fühlhörner
ihres Mechanismus tief in den Boden hinein.
Deshalb, sage ich euch, müssen wir selbst Zeugnis
ablegen von dem, was unser Volk für die
Menschheit bedeutete. Wir hatten die Horden12
der Mongolen und Afghanen kennengelernt,
die in Indien einfielen, aber wir hatten sie
kennengelernt als menschliche Rassen mit ihren
besonderen Religionen und Sitten, Neigungen
und Abneigungen – wir hatten sie nicht als
Nation kennengelernt. Wir liebten und haßten
sie, wie die Anlässe es ergaben, wir kämpften
für oder gegen sie, sprachen mit ihnen in einer
Sprache, die sowohl ihre als unsere war, und
halfen so an unserm Teile mit, das Schicksal
unseres Reiches zu lenken. Aber diesmal hatten
wir es nicht mit Königen, nicht mit menschlichen
Rassen zu tun, sondern mit einer Nation
– wir, die wir selbst keine Nation sind.
Wir wollen jetzt einmal aus unserer eigenen
Erfahrung heraus die Frage beantworten: Was
ist eine Nation?
Eine Nation im Sinne politischer und wirtschaftlicher
Vereinigung eines Volkes ist die
Erscheinung, die eine ganze Bevölkerung bietet,
wenn sie zu einem mechanischen Zweck organisiert
wird. Die menschliche Gesellschaft als
solche hat keinen über sie hinausreichenden
Zweck. Sie ist Selbstzweck. Sie ist die Form,
in der der Mensch als soziales Wesen sich von13
selbst ausdrückt. Sie ist die natürliche Ordnung
menschlicher Beziehungen, die den Menschen
die Möglichkeit gibt, in gemeinsamem Streben
ihre Lebensideale zu entwickeln. Sie hat auch
eine politische Seite, aber diese dient nur einem
besonderen Zweck, dem der Selbsterhaltung. Es
ist die Seite der Macht, nicht die des Lebensideals.
Und so war in früheren Zeiten die Politik
nur ein besonderes Gebiet, das Fachleuten
vorbehalten war. Aber wenn mit Hilfe der
Wissenschaft und der immer vollkommener
werdenden Organisation dies Gebiet zu erstarken
beginnt und reiche Ernten einbringt,
dann wächst es mit erstaunlicher Schnelle über
seine Grenzen hinaus. Denn dann spornt es alle
seine Nachbargebiete zur Gier nach materiellem
Gewinn und infolgedessen zu gegenseitiger
Eifersucht an. Und weil jeder den andern
fürchten muß, muß jeder nach Macht streben.
Die Zeit kommt, wo es kein Halten mehr gibt,
denn der Wettbewerb wird hitziger, die Organisation
nimmt immer größern Umfang an,
und die Selbstsucht wird übermächtig. Indem
die Politik aus der Gewinnsucht und Furcht
des Menschen Vorteil zieht, nimmt sie in der14
Gesellschaft einen immer größeren Raum ein
und wird zuletzt ihre beherrschende Macht.
Es ist wohl möglich, daß ihr, durch die
Gewohnheit abgestumpft, das Gefühl dafür
verloren habt, daß heutzutage die natürlichen
Bande der menschlichen Gesellschaft
zerreißen und rein mechanischer Organisation
Platz machen. Aber ihr könnt die Zeichen davon
überall sehen. Ihr seht, wie Mann und
Weib sich gegenseitig den Krieg erklären, weil
das natürliche Band, das sie miteinander in
Harmonie verbindet, gerissen ist. Der Mann
ist nur noch Berufsmensch, der für sich und
andere Reichtümer erzeugt, indem er beständig
das große Rad der Macht dreht – sich selbst
und der allgemeinen Bureaukratie zuliebe. Die
Frau mag hinwelken und sterben oder ihren
Lebenskampf allein ausfechten. Und so ist an
die Stelle von natürlichem Zusammenwirken
Wettbewerb getreten. So wandelt sich sogar
die seelische Beschaffenheit von Mann und
Weib hinsichtlich ihrer Beziehung zueinander,
und ihr Verhältnis wird das roher, kämpfender
Elemente, nicht das von Menschen, die in einer
auf gegenseitige Hingabe gegründeten Vereinigung15
ihre Ergänzung suchen. Denn die Elemente,
die sich nicht mehr natürlich verbinden
können, haben den Sinn ihres Daseins verloren.
Wie Gasmoleküle, die in einem zu engen Raum
zusammengepreßt sind, sind sie miteinander in
beständigem Kampf, bis sie das Gefäß selbst
zersprengen, das sie einzwängt.
Und dann denkt an jene, die sich Anarchisten
nennen, die den Druck der Macht auf das Individuum
in keiner Form dulden wollen. Der
Grund ihrer Auflehnung ist, daß die Macht
etwas zu Abstraktes geworden ist; sie ist ein
wissenschaftliches Produkt, das in dem politischen
Laboratorium der Nation erzeugt wird
durch Einschmelzung der menschlichen Persönlichkeit.
Und was bedeuten im wirtschaftlichen Leben
diese Streiks, die wie Dornsträucher auf unfruchtbarem
Boden jedesmal, wenn sie niedergeschlagen
sind, mit erneuter Kraft wieder
emporschießen? Was anders, als daß der
Reichtum erzeugende Mechanismus immer
mehr ins Ungeheure anwächst und in keinem
Verhältnis mehr steht zu allen andern Bedürfnissen
der Gesellschaft – und daß der wirkliche16
Mensch immer mehr und mehr unter
seinem Gewicht erdrückt wird? Solch ein Zustand
bringt unvermeidlich beständige Fehden
mit sich zwischen den Elementen, die nicht
mehr von dem Ideal des vollen Menschentums
beherrscht werden, und Kapital und Arbeit
sind in ewigem wirtschaftlichem Kampf miteinander.
Denn Gier nach Reichtum und Macht
kennt keine Grenze, und aus einem Vergleich
aus Eigennutz kann nie endgültige Versöhnung
werden. Sie müssen bis ans Ende Eifersucht
und Mißtrauen brüten, und dies Ende kann nur
ein plötzlich hereinbrechendes Verderben sein
oder geistige Wiedergeburt.
Wenn diese Organisation von Politik und
Handel, die man Nation nennt, allmächtig wird
auf Kosten der Harmonie der höheren Lebensformen,
dann steht es schlimm um die Menschheit.
Wenn ein Familienvater sich dem Spiel
ergibt und die Pflichten gegen die Seinen an
zweite Stelle treten, dann ist er nicht mehr
ein Mensch, sondern eine von der Gewinnsucht
getriebene Maschine. Dann kann er Dinge tun,
deren er sich im normalen Zustande schämen
würde. Wie beim einzelnen, so ist es auch bei17
der menschlichen Gesellschaft. Wenn sie nichts
mehr ist als organisierte Kraft, so gibt es wenig
Verbrechen, deren sie nicht fähig ist. Denn
Zweck einer Maschine und das, was ihr ihre
Daseinsberechtigung gibt, ist der materielle Erfolg,
während Ziel und Zweck des Menschen
allein das Gute ist. Wenn diese Organisationsmaschine
anfängt, großen Umfang anzunehmen,
und die Maschinenarbeiter zu Teilen der
Maschine werden, dann wird der persönliche
Mensch zu einem Phantom verflüchtigt, alles
was Mensch war, wird Maschine und dreht das
große Rad der Politik ohne das leiseste Gefühl
von Mitleid und sittlicher Verantwortung. Es
mag wohl vorkommen, daß selbst in diesem
seelenlosen Getriebe die sittliche Natur des
Menschen noch versucht, sich zu behaupten,
aber all die Seile und Rollen knarren und kreischen,
die Fäden des menschlichen Herzens
verstricken sich in dem Räderwerk der menschlichen
Maschine, und nur mit Mühe kann der
sittliche Wille ein blasses, verkümmertes Abbild
dessen, was er erstrebte, zustande bringen.
Dies abstrakte Wesen, die Nation, regiert
Indien. Es werden bei uns eine Art Konserven18
angezeigt, die hergestellt und verpackt sein
sollen, ohne von Händen berührt zu sein. Diese
Beschreibung paßt auf die Art, wie Indien
regiert wird; auch hier ist fast nichts von einer
menschlichen Hand zu spüren. Die Gouverneure
brauchen unsere Sprache nicht zu kennen,
brauchen nicht in persönliche Berührung
mit uns zu kommen, außer in ihrer Eigenschaft
als Beamte, sie können aus hochmütiger
Entfernung unsere Bestrebungen fördern oder
hindern, sie können uns auf einen bestimmten
politischen Weg führen und dann am Draht
ihrer Amtsmaschinerie wieder zurückziehen;
die englischen Zeitungen, deren Spalten mit
dem Pathos, das die Sache verlangt, ausführlich
von Unfällen auf den Londoner Straßen
erzählen, brauchen nur eine knappe Notiz zu
bringen von dem Elend, das weite Strecken
Indiens heimsucht, die zuweilen mehr Raum
einnehmen als die britischen Inseln.
Aber wir, die wir regiert werden, sind keine
bloße Abstraktion. Wir sind Individuen mit
lebendigem Gefühl. Was in Form einer leblosen
Politik zu uns kommt, kann uns ins
innerste Lebensmark dringen, kann unser Volk19
vielleicht für immer schwächen und hilflos
machen, ohne daß auf der andern Seite ein
menschliches Rühren sich fühlbar macht, oder
jedenfalls sich so fühlbar macht, daß es irgendwelche
Wirkung hätte. So umfassende und
summarische Handlungen von so furchtbarer
Verantwortung wird der Mensch nie mit solchem
Grad von systematischer Unbekümmertheit
da begehen, wo er individueller Mensch
ist. Solche Handlungen werden nur möglich,
wo der Mensch ein Polyp von Abstraktionen
ist, der seine sich schlängelnden Arme mit
ihren unzähligen Saugscheiben weit nach allen
Seiten ausstreckt, selbst in die ferne Zukunft
hinein. Unter solcher Regierung der Nation
werden die Regierten von Mißtrauen verfolgt,
und dies Mißtrauen erfüllt eine gewaltige Masse
von organisiertem Hirn und Muskeln. Strafen
werden zuerkannt, die in unzähligen Menschenherzen
blutige Spuren zurücklassen; aber
diese Strafen werden von einer rein abstrakten
Gewalt ausgeteilt, in der die menschliche
Persönlichkeit der ganzen Bevölkerung eines
fernen Landes untergegangen ist.
Ich will hier jedoch nicht die Frage erörtern,20
insofern sie mein eigenes Land angeht, sondern
ich will über ihre Bedeutung für die Zukunft
der ganzen Menschheit sprechen. Es handelt
sich hier nicht um die englische Regierung,
sondern um die Regierung durch die Nation –
die Nation, die die organisierte Selbstsucht eines
ganzen Volkes ist und alles das von ihm verkörpert,
was am wenigsten menschlich und am
wenigsten geistig ist. Wir haben intime Erfahrung
nur mit der englischen Regierung gemacht,
und man darf wohl annehmen, daß, soweit
es sich um Regierung durch eine Nation
handelt, die englische noch eine der besten ist.
Wir müssen auch in Betracht ziehen, daß der
Osten den Westen notwendig braucht. Wir ergänzen
einander wegen unserer verschiedenen
Art auf das Leben zu blicken, die uns zu verschiedenen
Auffassungen von der Wahrheit
geführt hat. Wenn es daher wahr ist, daß der
Geist des Westens wie ein Sturmwind über unsere
Felder hingefegt ist, so hat er doch auch
lebendigen Samen mit sich gebracht, der unsterblich
ist. Und wenn wir in Indien dahin
kommen, das, was in der westlichen Kultur
dauernd ist, in unser Leben aufzunehmen, so21]
werden wir einst in der Lage sein, eine Versöhnung
zwischen diesen beiden großen Welten
zustande zu bringen. Dann wird der drückende
und verletzende Zustand der einseitigen Herrschaft
ein Ende haben. Und was mehr bedeutet,
wir müssen bedenken, daß die Geschichte Indiens
nicht einer bestimmten Rasse angehört,
sondern daß in ihrem Verlauf verschiedene
Rassen daran schöpferischen Anteil genommen
haben – die Drawiden und Arier, die alten
Griechen und die Perser, die Muhammedaner
des Westens und die von Zentralasien. Jetzt ist
die Reihe an den Engländern, dieser Geschichte
ihr Recht zu geben und sie mit dem Einschlag
ihres Lebens zu bereichern, und wir haben
weder das Recht noch die Macht, dies Volk zu
hindern, am Geschick Indiens mitzubauen. Daher
geht das, was ich über die Nation sage,
mehr die Geschichte der Menschheit an als die
Indiens im besonderen.
Diese Geschichte ist in ein Stadium gekommen,
wo der sittliche Mensch, der ganze
Mensch, fast ohne es zu wissen immer mehr
und mehr dem politischen Menschen und dem
Geschäftsmenschen, dem Menschen des begrenzten22
Ziels, Platz macht. Dieser Vorgang,
der unterstützt wird durch die erstaunlichen
Fortschritte der Naturwissenschaft, wird immer
riesiger und gewaltiger und bringt den Menschen
aus seinem sittlichen Gleichgewicht, indem
er die menschliche Seite seines Wesens
durch seelenlose Organisation überwiegen läßt.
Wir haben seinen eisernen Griff an der Wurzel
unseres Lebens gespürt, und um der Menschheit
willen müssen wir aufstehen und unsern
Warnungsruf erschallen lassen, daß dieser Nationalismus
eine furchtbare Epidemie ist, die
die heutige Menschheit erfaßt hat und an ihrer
sittlichen Lebenskraft zehrt.
Ich schätze und liebe die Engländer als Menschen.
Sie haben großherzige Männer erzeugt,
große Denker und große Männer der Tat. Sie
haben eine große Literatur hervorgebracht. Ich
weiß, daß sie Gerechtigkeit und Freiheit lieben
und die Lüge hassen. Sie sind rein in ihrem
Fühlen, offen in ihrem Wesen, treu in ihrer
Freundschaft; sie sind ehrlich und zuverlässig
in ihrer Handlungsweise. Die persönlichen Erfahrungen,
die ich mit ihren Gelehrten und
Literaten gemacht habe, haben meine Bewunderung23
erregt, nicht nur für ihre Gedankentiefe
und Kraft des Ausdrucks, sondern auch
für ihre ritterliche Menschlichkeit. Wir haben
die Größe dieses Volkes gefühlt, wie wir die
Sonne fühlen; aber was die Nation betrifft, so
ist sie für uns ein dichter, erstickender Nebel,
der die Sonne selbst verdeckt.
Diese Regierung durch die Nation ist weder
englisch noch irgendeinem andern Volk besonders
eigentümlich; sie ist eine angewandte
Wissenschaft und daher, wo auch immer sie
geübt wird, in ihren Grundsätzen mehr oder
weniger sich ähnlich. Sie ist wie eine hydraulische
Presse, deren Druck unpersönlich und
deswegen von unfehlbarer Wirkung ist. Die
Größe ihrer Kraft kann bei den verschiedenen
Maschinen verschieden sein. Es gibt sogar
solche, die mit der Hand getrieben werden und
daher noch einen gewissen Spielraum für
loseren Druck lassen, aber in bezug auf Geist
und Methode sind die Unterschiede gering.
Wenn unsere Regierung holländisch oder französisch
oder portugiesisch wäre, so würde sie
im wesentlichen doch dieselben Züge haben wie
jetzt. Vielleicht nur, daß in einzelnen Fällen24
die Organisation nicht so unerbittlich vollkommen
wäre und noch ein verlorener Rest
von Menschlichkeit am Rad der Maschine
hängenbleiben würde, bei dem unser pochendes
Herz Antwort finden könnte.
Bevor die Nation zur Herrschaft über uns
gelangte, hatten wir andere fremdländische Regierungen,
und diese hatten, wie alle Regierungen,
auch etwas von der Maschine an sich.
Aber der Unterschied zwischen ihnen und der
Regierung durch die Nation ist wie der zwischen
Handweberei und Maschinenweberei. In
den Erzeugnissen des Handwebstuhls drückt
sich der Zauber der lebendigen, fühlenden
Menschenhand aus, und sein friedliches Summen
ist in Harmonie mit der Musik des
Lebens. Aber die Webemaschine ist starr und
unerbittlich genau und monoton in ihrer
Arbeit.
Wir müssen zugeben, daß in den früheren
Zeiten der persönlichen Regierung Fälle von
Tyrannei, Ungerechtigkeit und Erpressung vorkamen.
Sie brachten Leiden und Unruhe, und
wir sind dankbar, davon befreit zu sein. Der
Schutz des Gesetzes ist nicht nur ein Geschenk,25
das uns zuteil wurde, sondern auch
eine wertvolle Lehre. Er lehrt uns, welche
Zucht nötig ist, wenn die Kultur Bestand haben
und der Fortschritt dauern soll. Durch ihn
wird uns klar, daß es eine allgemeine Norm
der Gerechtigkeit gibt, auf die alle Menschen,
ohne Rücksicht auf ihre Kaste und Farbe,
gleiches Anrecht haben.
Diese Herrschaft des Gesetzes in der gegenwärtigen
Regierung Indiens hat Ordnung hergestellt
in diesem weit ausgedehnten Lande,
das von Völkern verschiedener Rassen und
verschiedener Sitten bewohnt wird. Sie hat es
diesen Völkern möglich gemacht, näher miteinander
in Berührung zu kommen und sich zu
höherem Streben zu verbinden.
Aber es ist der Geist des Westens, nicht die
Nation des Westens, die in den verschiedenen
Rassen Indiens die Sehnsucht nach brüderlicher
Vereinigung geweckt hat. Wo auch
immer ein Volk Asiens eine höhere Weisheit
vom Westen gelernt hat, da geschah es gegen
den Willen der westlichen Nation. Nur weil
Japan der Herrschaft der westlichen Nation
hatte trotzen können, konnte es sich die Gaben26
der westlichen Kultur in vollstem Maße zu
eigen machen. Und China, das von dieser Nation
an der Quelle seines moralischen und physischen
Lebens vergiftet worden ist, kann es
vielleicht noch gelingen, dem Westen seine
besten Lehren abzulauschen, wenn die Nation
es nicht daran hindert. Erst jüngst geschah es,
daß Persien, durch den Ruf des Westens aus
seinem jahrhundertelangen Schlummer aufgeweckt,
sich erhob, um sofort wieder von der
Nation niedergetreten und zum Schweigen gebracht
zu werden. Dieselbe Erscheinung zeigt
sich auch hier bei euch in Amerika, wo das
Volk gastfrei ist, aber nicht die Nation, die
einem Gast aus dem Orient so begegnet, daß er
sich als Vertreter seines Vaterlandes vor euch
gedemütigt fühlt.
Wir in Indien leiden unter dem Konflikt
zwischen dem Geist des Westens und der
Nation des Westens. Die Wohltaten der westlichen
Kultur werden uns von der Nation mit
dem knappsten Maße zugeteilt. Sie versucht,
unsere Ernährung dem Nullpunkt der Lebensfähigkeit
so nah wie möglich zu halten. Was
unserm Volk an Erziehung gewährt wird, ist27
so kärglich und armselig, daß es das Anstandsgefühl
eines europäischen Menschen empören
müßte. Wir haben gesehen, wie in den westlichen
Ländern das Volk auf jede Weise ermutigt
wird, sich zu bilden, und wie ihm jede
Gelegenheit gegeben wird, sich tüchtig zu
machen für den großen Wettkampf auf dem
Weltmarkt, während in Indien das einzige, was
die Nation für uns tut, ist, daß sie uns verhöhnt,
weil wir zurückgeblieben sind. Während
sie uns alle Möglichkeiten verschließt und
unsere Erziehung auf das Minimum beschränkt,
das eine fremde Regierung für ihre Durchführung
braucht, beruhigt diese Nation ihr Gewissen
damit, daß sie uns herabzusetzen sucht,
indem sie geschäftig die zynische Weisheit
verbreitet, daß Osten Osten und Westen Westen
bleibt und die beiden nie eins werden können.
Wenn wir glauben müssen, was unser westlicher
Lehrer uns höhnend vorwirft, daß nach
fast zwei Jahrhunderten seiner Vormundschaft
Indien nicht nur unfähig geblieben ist, sich
selbst zu regieren, sondern auch auf geistigem
Gebiete keine Originalität hat aufweisen
können – müssen wir dies der Art der westlichen28
Kultur und unserer angeborenen Unfähigkeit,
sie aufzunehmen, zuschreiben, oder
dem berechnenden Geiz der Nation, die die
Aufgabe der Europäer, den Osten zu zivilisieren,
auf sich genommen hat? Daß das japanische
Volk Gaben hat, die uns fehlen, geben
wir gern zu, aber daß unser Geist von Natur
unschöpferisch ist im Vergleich zu ihrem, dies
können wir selbst denen nicht zugeben, denen
zu widersprechen für uns gefährlich ist.
In Wahrheit ist nämlich der westliche Nationalismus
nicht auf soziales Zusammenwirken
gegründet, sondern von Anfang an und bis in
seinen innersten Kern vom Geist des Kampfes
und der Eroberungssucht beherrscht. Er hat
die Organisation der Macht bis zur Vollkommenheit
entwickelt, aber keinen geistigen
Idealismus. Er hat den Geist des Raubtiers,
das seine Beute haben muß. Um keinen Preis
will er dulden, daß seine Jagdgründe in Kulturland
umgeschaffen werden. Ja, im Grunde
kämpfen diese Nationen miteinander nur um
größere Ausdehnung ihres Jagdgebietes. Daher
stellt sich die westliche Nation wie ein
Damm auf, um den freien Strom der westlichen29
Kultur in das nationslose Land aufzuhalten.
Weil diese Kultur eine Kultur der
Macht ist, sucht sie sich abzuschließen und will
ihre Quellen nicht öffnen, die sie sich zur
Ausbeutung erwählt hat.
Aber trotz alledem ist doch das sittliche Gesetz
das Gesetz der menschlichen Natur, und
der sich abschließenden Kultur, die sich von
denen nährt, denen sie ihre Wohltaten versagt,
wird ihre sittliche Halbheit zum Verderben.
Die Sklaverei, die sie züchtet, trocknet
allmählich die Brunnen ihrer Freiheitsliebe
aus. Die Hilflosigkeit, zu der sie ihre
Opfer verdammt, hängt sich mit ihrer ganzen
Schwere an sie, und es wird ein Tag kommen,
wo all die Länder der Welt, die die Nation am
Eigenleben und an der Selbsterhaltung hindert,
die furchtbarste aller Lasten für sie werden
und sie in den Abgrund ziehen. Wenn die
Macht so weit geht, daß sie, um ungehindert
ihren Weg fortzusetzen, alle Hindernisse beiseite
schiebt, dann endet ihre triumphierende
Siegesfahrt mit jähem Sturz. Ihr sittlicher
Hemmschuh gibt mit jedem Tage, ohne daß
sie es merkt, immer mehr nach, und der Pfad,30
auf dem sie so leicht dahinglitt, wird ihr zum
Verhängnis.
Von allen Gaben der europäischen Kultur
sind es nur Gesetz und Ordnung, die uns die
westliche Nation mit freigebigem Maß zugeteilt
hat. Während die kleine Saugflasche, in
der sie uns Erziehung verabfolgt, fast leer ist
und die Gesundheitspflege am Hungertuch
nagt, sind Einrichtungen wie die Heeresorganisation,
das Verwaltungs- und Polizeiwesen, die
Geheimpolizei, das geheime Spionagesystem zu
abnormer Körperfülle gediehen und machen
sich in jedem Winkel unseres Landes breit. Sie
sind nötig, um die Ordnung aufrechtzuerhalten.
Aber ist nicht diese Ordnung ein rein negatives
Gut? Sollte Ordnung nicht dazu da sein,
dem Volke mehr Möglichkeiten zu schaffen,
sich ungehindert zu entwickeln? Hat sie nicht
die Aufgabe der Eierschale, deren Wert darin
besteht, daß sie dem Küchlein und seiner Nahrung
Schutz gibt, nicht darin, daß sie dem
Menschen in bequemer Form eine Frühstücksspeise
bietet? Bloße Verwaltung ist unfruchtbar,
ist nicht schöpferisch, da sie etwas Lebloses
ist. Sie ist eine Dampfwalze, die furchtbar31
an Gewicht und Kraft ist, auch ihren
Nutzen hat, aber nichts dazu tun kann, den
Boden fruchtbar zu machen. Wenn sie, nachdem
sie ihr ungeheures Werk getan hat, uns
die Gabe des Friedens bietet, so können wir
nur leise murmeln: »Friede ist gut, aber Leben
ist besser, und das ist die Gabe, die Gott uns
verliehen hat.«
Andererseits fehlte es unsern früheren Regierungen
an vielen Vorteilen der heutigen
Regierung. Aber weil sie nicht Regierungen
der Nation waren, war ihr Gewebe so lose gewoben
und ließ Raum genug, daß unser eigenes
Leben seine Fäden hindurchschießen und seine
Muster heimlich hineinweben konnte. Sicher
hatten wir in jener Zeit Dinge zu ertragen, die
uns äußerst unangenehm waren. Aber wir
wissen, daß, wenn wir barfuß auf Kieswegen
gehen, unsere Füße sich allmählich den Launen
der ungastlichen Erde anbequemen, während
der kleinste Kiesel uns plagt und nicht zur
Ruhe kommen läßt, sobald er in unsern Schuh
dringt. Und die Regierung durch die Nation ist
solch ein Schuh – er schließt knapp an, er
regelt unsere Schritte nach einem festen System32
und läßt unsern Füßen so gut wie keine Freiheit,
sich darin einzurichten. Wenn ihr daher
eure Statistiken aufweist, die die Anzahl von
Kieseln, an die unsere Füße früher stießen,
mit der geringen Zahl unter dem gegenwärtigen
System vergleichen, so treffen diese kaum
das Wesentliche. Es handelt sich nicht um die
Zahl der äußeren Hindernisse, sondern um die
Ohnmacht des einzelnen, sie aus dem Wege
zu räumen. Diese Beschränkung der Freiheit
ist ein Übel, das nicht sowohl durch seinen
Umfang als durch seine Art unerträglich wird.
Und wir können nicht umhin, den Widerspruch
zu sehen, daß, während der Geist des
Westens unter dem Banner der Freiheit dahinschreitet,
die Nation des Westens ihre eisernen
Ketten der Organisation schmiedet, die
härtesten und unzerbrechlichsten, die je in der
Menschheitsgeschichte geschmiedet wurden.
Als Indien noch nicht unter der Herrschaft
der Organisation stand, waren die Möglichkeiten,
daß die Zustände sich verändern könnten,
groß genug, um kraftvollen und mutigen
Männern das Gefühl zu geben, daß sie ihr
Schicksal in ihre eigene Hand nehmen konnten.33
Die Hoffnung auf das Unerwartete war immer
da, und ein freieres Spiel der Einbildungskraft,
sowohl auf Seiten der Regierenden als der Regierten,
beeinflußte den Werdegang der Geschichte.
Wir standen nicht vor einer Zukunft,
die wie eine kalte weiße Mauer von Granitblöcken
der Auswirkung und Ausbreitung
unserer Kräfte sich entgegenstellte, wobei das
Hoffnungslose darin liegt, daß diese Kräfte infolge
des künstlichen Lähmungsverfahrens an
der Wurzel absterben. Denn jeder einzelne
Mensch in dem nationslosen Lande ist vollständig
in der Gewalt einer ganzen Nation,
deren nie ermüdender Wachsamkeit – da es
die Wachsamkeit einer Maschine ist – die
Möglichkeit menschlicher Nachsicht und Unterscheidung
fehlt. Bei dem geringsten Druck auf
ihren Knopf wird das Ungeheuer ganz Auge,
und kein einziger in der unendlichen Menge
der von ihr Beherrschten kann ihrem scheußlich
starrenden Aufpasserblick ausweichen.
Und sobald nur ein klein wenig an der
Schraube gedreht wird, fühlt die ganze
große Bevölkerung, Männer, Frauen, Kinder,
wie ihr Griff sie fester umklammert und ihnen34
den Atem raubt, und kein Entweichen ist möglich,
weder im eigenen Lande noch selbst in
irgendein fremdes Land.
Dieser beständige ungeheure mechanische
Druck des Leblosen auf das Lebendige ist es,
worunter die heutige Welt stöhnt. Nicht nur
die unterworfenen Rassen, sondern ihr selbst,
die ihr glaubt frei zu sein, opfert täglich eure
Freiheit und Menschheit dem Götzen Nationalismus
und lebt in der dumpfen, vergifteten
Atmosphäre von Mißtrauen, Gier und Angst,
die sich über die ganze Welt erstreckt.
Ich habe in Japan gesehen, wie das ganze
Volk sich freiwillig geistig zurechtstutzen und
seine Freiheit beschneiden läßt von einer Regierung,
die durch allerlei erziehliche Maßnahmen
ihre Gedanken regelt, ihre Gefühle künstlich
erzeugt, argwöhnisch aufpaßt, wenn sie Miene
machen, sich geistigen Dingen zuzuwenden,
und sie auf engem Pfade nicht zu ihrem
wahren Ziele führt, sondern dahin, wo sie sie
nach ihrem Rezept zu einer gleichförmigen
Masse zusammenschweißen kann. Und das
Volk fügt sich freudig und stolz in diese
allgemeine geistige Sklaverei, weil es den35
krankhaften Wunsch hat, auch so eine Kraftmaschine,
die man Nation nennt, zu werden
und es andern Maschinen an Kollektiveigennutz
gleichzutun.
Wenn man so einen neu bekehrten Fanatiker
des Nationalismus nach der Weisheit
seines Strebens fragt, so antwortet er: »Solange
Nationen in dieser Welt so um sich greifen,
haben wir nicht mehr das Recht, unser höheres
Menschentum frei zu entwickeln. Wir brauchen
alle unsere Kräfte, um dem Übel zu
widerstehen, und das tun wir am besten, wenn
wir es uns selbst im höchsten Grade zu eigen
machen. Denn die einzige Verbrüderung, die
in der modernen Welt möglich ist, ist die
Spießgesellenschaft des Banditentums.« Die
Stiftung des Bruderbundes zwischen Japan und
Rußland, die jüngst mit so viel Jubel in Japan
gefeiert wurde, hatte ihren Grund nicht in dem
plötzlichen Wiederaufleben des christlichen
oder buddhistischen Geistes, sondern sie gründete
sich auf etwas, was nach den modernen
Glaubenssätzen sicherer und zuverlässiger ist,
auf gegenseitige Bedrohung.
Man muß zugeben, daß dies das wahre Bild36
der Welt der Nation ist, und die einzige Lehre,
die die Völker der Erde daraus ziehen können,
ist, daß sie alle physischen, geistigen und sittlichen
Kräfte anstrengen sollten, einander in
dem großen Ringkampf um die Macht zu
Boden zu werfen. In den alten Zeiten richtete
Sparta sein ganzes Augenmerk darauf, wie es
mächtig werden könnte; es gelang ihm dadurch,
daß es seine Menschheit verstümmelte,
und es starb an der Amputation.
Aber es ist für uns kein Trost, zu wissen,
daß das Verkümmern der menschlichen Natur,
unter dem die heutige Zeit leidet, sich nicht
auf die unterworfenen Völker beschränkt, daß
das Übel bei den Völkern, die sich frei glauben,
noch schlimmer ist, weil es nicht als solches erkannt
und ihm freiwillig Raum gegeben wird.
Wenn ihr eure höheren Lebensgüter um Gewinn
und Macht verschachert, so ist es eure
freie Wahl, und meinetwegen steht da und
freut euch über euer wachsendes Gedeihen,
während eure Seele Schiffbruch leidet. Aber
werdet ihr nie Rechenschaft ablegen müssen
dafür, daß ihr die selbstsüchtigen Triebe in
ganzen Völkern auf den höchsten Grad entwickelt37
und organisiert und dies gut nennt?
Ich frage euch, gibt es in der ganzen Menschheitsgeschichte,
selbst in ihren dunkelsten Perioden,
etwas so Ungeheuerliches wie diese Untat
der Nation, die ihre Pranken tief in das
nackte Fleisch der Welt schlägt, und deren einzige
Sorge ist, daß sie nur keinen Augenblick
den Griff lockert?
Ihr Völker des Westens, die ihr dieses Ungeheuer
ausgebrütet habt, könnt ihr euch die
trostlose Verzweiflung derer vorstellen, die
diesem abstrakten Gespenst des organisierenden
Menschen zum Opfer gefallen sind? Könnt
ihr euch an die Stelle der Völker versetzen, die
zum ewigen Verlust ihrer Menschheit verdammt
scheinen, die nicht nur beständig in ihrer
Menschheit gekränkt werden, sondern Loblieder
anstimmen müssen auf die Güte eines
mechanischen Apparats, der die Rolle ihrer
Vorsehung spielt?