Nationalismus
Nationalismus-2
Habt ihr nicht gesehen, daß, seit es eine Nation
gibt, die ganze Welt vor ihr wie vor einer
Spukgestalt zittert? Wo es nur eine dunkle
Ecke gibt, da hat man Angst vor ihrer heimlichen
Bosheit, und wo sie ihre Augen nicht38
zu fürchten brauchen, da haben die Menschen
beständig Angst vor ihrem Rücken. Jedes Geräusch
eines Trittes, jeder Laut in der Nachbarschaft
läßt alle vor Schrecken zusammenfahren.
Und diese Angst ruft alles Böse in der
Menschennatur wach. Sie bewirkt es, daß er
sich seiner Unmenschlichkeit fast nicht mehr
schämt. Auf kluge Lügen tut er sich etwas zugute.
Feierliche Gelübde werden ihm gerade
durch ihre Feierlichkeit zur lächerlichen
Farce. Die Nation mit all ihrer Ausstaffierung
von Macht und Erfolg, mit ihren Fahnen und
frommen Hymnen, ihren gotteslästerlichen Gebeten
in den Kirchen und den prahlerischen
Donnerworten ihrer patriotischen Großsprecherei,
kann doch die Tatsache nicht verbergen,
daß die Nation selbst das größte Übel für die
Nation ist, daß alle ihre Vorsichtsmaßregeln
gegen sie gerichtet sind und daß die Geburt
jeder neuen Nation in der Welt in ihr die
Furcht vor einer neuen Gefahr erweckt. Ihr
einziger Wunsch ist, sich die Schwäche der
übrigen Welt zunutze zu machen, wie einige
Insektenarten, die den Opfern, in deren wehrlosem
Fleisch sie ihre Brut großziehen, nur39
gerade so viel Leben lassen, daß sie genießbar
und nahrhaft sind. Daher ist sie immer bereit,
ihre giftige Flüssigkeit in die Lebensorgane
der andern Völker zu flößen, die nicht Nationen
und daher wehrlos sind. Aus diesem Grunde
hat die Nation von jeher ihre reichste Weide
in Asien gehabt. Das große China, mit seinem
Reichtum an alter Weisheit und sozialer Ethik,
mit seiner Erziehung zu Fleiß und Selbstbeherrschung,
ist wie ein Walfisch, der die Beutegier
im Herzen der Nation erweckt. Schon
sitzen in seinem bebenden Fleisch die Harpunen,
die die nie ihr Ziel verfehlende Nation,
die Tochter der modernen Wissenschaft und
des Egoismus, nach ihm schleuderte. Sein kläglicher
Versuch, seine alten Traditionen von
Menschlichkeit und seine sozialen Ideale abzuschütteln
und den letzten Rest seiner erschöpften
Kräfte darauf zu verwenden, sich für die
moderne Welt tüchtig zu machen, wird bei
jedem Schritt von der Nation vereitelt. Diese
zieht die Schlinge seiner finanziellen Verpflichtungen
immer fester um seinen Leib und versucht,
ihn aufs Trockene zu ziehen und in
Stücke zu zerlegen, um dann hinzugehen und40
öffentlich Dankgottesdienst zu halten, weil
Gott verhindert hat, daß neben dem einen großen
Übel ein zweites aufkomme und es gefährde.
Und für alles dies erhebt die Nation
Anspruch auf den Dank der Geschichte und
auf das Recht, die Welt in alle Ewigkeit auszubeuten,
und läßt von einem Ende der Welt
bis zum andern Loblieder auf sich singen als
auf das Salz der Erde, die Zierde der Menschheit,
den Segen Gottes, den er mit aller Gewalt
den Nationslosen auf die nackten Schädel
schleudert.
Ich weiß, welchen Rat ihr uns gebt. Ihr
werdet sagen: Schließt euch selbst zu einer
Nation zusammen und widersetzt euch den
Übergriffen der »Nation«. Aber ist das der
rechte Rat? Der Rat, den der Mensch dem
Menschen gibt? Warum sollte dies notwendig
sein? Ich würde euch gern glauben, wenn ihr
sagtet: »Werdet besser, gerechter, wahrer in
eurem Verhältnis zu den Menschen, zügelt eure
Gier, macht euer Leben gesund durch größere
Einfachheit und zeigt mehr, daß ihr an das
Göttliche im Menschen glaubt.« Aber dürft ihr
sagen, daß nicht die Seele, sondern die Maschine41
das Wertvollste für uns ist und daß das Heil
des Menschen davon abhängt, daß er es in der
Kunst, sich dem Rhythmus des toten Räderwerks
anzupassen, zur Vollkommenheit bringt?
Daß Maschine gegen Maschine, Nation gegen
Nation kämpfen muß in einem endlosen Stiergefecht?
Ihr sagt, daß diese Maschinen ein Übereinkommen
treffen werden zu gegenseitigem
Schutz, das sich auf ihre Furcht voreinander
gründet. Aber wo bleibt bei diesem Bündnis
von Dampfkesseln die Seele, die Seele, die ihr
Gewissen und ihren Gott hat? Und was soll
aus dem großen Teil der Welt werden, den
anzugreifen keine Furcht euch zurückhalten
kann? Die einzige Sicherheit, die jene nationslosen
Länder jetzt haben gegen die Zügellosigkeit
von Schmiede, Hammer und Schraubenzieher,
ergibt sich aus der gegenseitigen Eifersucht
der Mächte. Aber wenn sie aus zahlreichen
Einzelmaschinen sich zu einer organisierten
Herdeneinheit verbinden, um gemeinsam
auf den Gebieten des Handels und der
Politik ihre Gier noch besser stillen zu können,
welche leiseste Hoffnung, sich zu retten, bleibt42
dann jenen andern, die gelebt und gelitten,
geliebt und angebetet, in tiefem Sinnen und
friedlicher Arbeit ihre Tage verbracht haben,
und deren einziges Verbrechen es war, daß sie
sich nicht organisierten?
»Aber«, sagt ihr, »das macht nichts, was
nicht widerstandsfähig ist, muß zugrunde
gehen, das ist Naturgesetz. Dann müssen sie
eben sterben.«
»Nein,« sage ich, »um eurer selbst willen
sollen sie leben und werden sie leben.« Es ist
sehr kühn von mir, dies in unserer Zeit zu
sagen, aber ich behaupte, daß die Welt des
Menschen eine sittliche Welt ist, nicht weil wir
übereingekommen sind, es blindlings zu glauben,
sondern weil es wirklich so ist und weil
es gefährlich für uns ist, diese Wahrheit nicht
zu sehen. Und das sittliche Gesetz im Menschen
kann nicht auf verschiedenen Gebieten
verschiedene Geltung haben. Ihr könnt nicht
daheim strenge Strafen auf seine Übertretung
setzen und es draußen für euch so dehnen, daß
es sich euren ungezügelten Begierden anpaßt.
Habt ihr diese Wahrheit nicht schon jetzt erkannt,
wo dieser grausame Krieg seine Klauen43
in die Eingeweide Europas geschlagen hat?
Wo seine angehäuften Schätze in Rauch aufgehen
und seine Menschheit auf den Schlachtfeldern
in Stücke zerrissen wird? Ihr fragt erstaunt:
Was hat Europa getan, daß es dies verdient
hätte? Die Antwort ist, daß der Westen
systematisch seine sittliche Natur versteinert
hat, um eine solide Grundlage zu haben, auf
der diese abstrakten Ungetüme die größte
Wirksamkeit entfalten können. Er hat die
ganze Zeit den persönlichen Menschen darben
lassen, damit der Berufsmensch gedeihe.
Der einfache und natürliche Mensch des
mittelalterlichen Europas mit all seinen heftigen
Leidenschaften und Begierden versuchte,
eine Versöhnung zu finden in dem Kampf
zwischen Fleisch und Geist. In der ganzen stürmischen
Zeit seiner kraftvollen Jugend haben
die weltlichen und geistlichen Mächte gleichzeitig
auf den europäischen Menschen eingewirkt
und ihn zu einer vollen sittlichen Persönlichkeit
gebildet. Europa verdankt alle seine
menschliche Größe jener Zeit der Zucht, der
Zucht des noch unverkümmerten Menschen.
Dann kam das Zeitalter des Intellekts, der44
Wissenschaft. Wir wissen alle, daß der Intellekt
etwas Unpersönliches ist. Unser Leben
und unser Herz sind eins mit uns, aber unser
Geist kann vom persönlichen Menschen losgelöst
werden, und nur dann kann er frei
schweifen in der Welt der Gedanken. Unser
Intellekt ist wie ein Asket, der keine Kleider
trägt, keine Nahrung zu sich nimmt, keinen
Schlaf kennt, keine Wünsche hat, nicht Liebe
noch Haß noch Mitleid mit menschlichen Unzulänglichkeiten
fühlt, der, unberührt durch
alle Wechselfälle des Lebens, nur seinen Gedanken
nachhängt. Er gräbt bis an die Wurzeln
der Dinge, weil er kein persönliches Gefühl
für die Dinge selbst hat. Der Grammatiker
geht durch alle Poesie ungehindert zu den
Wurzeln der Wörter, denn er sucht nicht
lebendige Wirklichkeit, sondern Gesetz. Wenn
er das Gesetz gefunden hat, kann er die Leute
lehren die Worte zu meistern. Dies ist eine
Kraft, eine Kraft, die ihren besondern Nutzen
hat und einem besondern Bedürfnis des Menschen
entspricht.
Die lebendige Wirklichkeit aber ist die Harmonie,
die die einzelnen Teile eines Dinges zu45
einem Ganzen verbindet. Löst ihr dies Band,
so fliegen alle Teile auseinander, bekämpfen
einander und haben den Sinn ihres Daseins
verloren. Die nach Macht begierig sind, suchen
sich die sich bekämpfenden Urelemente zu
unterwerfen und sie gewaltsam durch enge
Kanäle so zu leiten, daß sie den besonderen Bedürfnissen
der Menschheit dienstbar werden.
Es ist etwas Großes um diese Befriedigung
der menschlichen Bedürfnisse. Sie gibt ihm
Freiheit innerhalb der physischen Welt. Sie
gibt ihm Herrschaft über Raum und Zeit. Er
kann in kürzerer Zeit etwas ausrichten und mit
mehr Vorteil einen großem Raum einnehmen.
Daher kann er leicht die überholen, die in
einer Welt von langsamerem Tempo und
weniger ausgenutztem Raum leben.
Dies Anwachsen der Macht geschieht in
immer schnellerem Tempo. Und weil sie etwas
vom Menschen Losgelöstes ist, wird sie bald
die ganze Menschheit überholen. Der sittliche
Mensch bleibt hinter ihr zurück, weil er seinen
Blick auf die Dinge selbst und nicht nur auf
das unpersönliche und abstrakte Gesetz der
Dinge richtet.
46So ist der Mensch, wenn seine geistige und
körperliche Kraft sich weit über seine sittliche
Kraft hinaus entwickelt, wie eine Giraffenkarikatur,
deren Kopf plötzlich meilenweit
über ihren übrigen Körper hinaus emporgeschossen
und kaum noch in Verbindung mit
ihm ist. Dieser gierige Kopf mit seinem gewaltigen
Gebiß hat alle Gipfel der Bäume abgefressen,
aber die Nahrung gelangt zu spät
in die Verdauungsorgane, so daß das Herz
an Blutmangel leidet. Aber der Westen selbst
scheint in glücklicher Unwissenheit über diese
Disharmonie in seiner Natur zu leben. Die erstaunliche
Größe seines materiellen Erfolgs
nimmt seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch,
und er wünscht sich Glück zu seinem
Wachstum. Der Optimismus seiner Logik berechnet
sein zunehmendes Gedeihen nach der
Ausbreitung seines Eisenbahnnetzes und sieht
noch unendliche Möglichkeiten. Er ist oberflächlich
genug zu denken, daß alle Morgen
dem Heute gleichen und ihm nur vierundzwanzig
Stunden hinzufügen. Er fürchtet die
Kluft nicht, die sich mit jedem Tag weiter
öffnet zwischen seinen sich füllenden Vorratshäusern47
und der hungernden Menschheit.
Seine Logik weiß nicht, daß tief unter den
endlosen Schichten von Reichtum und Behagen
Erdbeben sich vorbereiten, die das Gleichgewicht
in der sittlichen Welt wiederherstellen
sollen, und daß eines Tages der gähnende Abgrund
geistiger Leere den ganzen aufgehäuften
Reichtum dieser staubgeborenen Dinge verschlingen
wird.
Der Mensch in seiner Ganzheit ist nicht
mächtig, sondern vollkommen. Wenn ihr ihn
daher zu einer bloßen Kraft machen wollt, so
müßt ihr seine Seele soviel wie möglich beschneiden.
Wenn wir ganze Menschen sind, so
können wir nicht einander an die Kehle fahren;
unsere sozialen Instinkte, die Traditionen
unserer sittlichen Ideale hindern uns daran.
Wenn man mich dazu bringen will, daß ich
menschliche Wesen hinschlachte, so muß man
die Ganzheit meines Menschentums durch
etwas zerstören, das meinen Willen tötet, mein
Denken lähmt, meine Bewegungen mechanisiert,
und dann wird aus der Auflösung der
vollen menschlichen Persönlichkeit jene Abstraktion
hervorgehn, jene zerstörende Kraft,48
die nichts mehr mit wahrer Menschlichkeit
zu tun hat, und die daher leicht brutal wird.
Nehmt den Menschen heraus aus seiner natürlichen
Umgebung, aus seinem reichen Gemeinschaftsleben
mit seinen sozialen Pflichten und
all seiner Fülle von Liebe und Schönheit, und
nichts ist mehr da, was seine Ganzheit zusammenhält,
ihr könnt ihn stückweise in das
Räderwerk eurer großen Maschine einfügen,
die dazu dient, in riesigem Maßstabe Reichtümer
zu erzeugen. Macht einen Baum zu einem
Holzblock, und er wird euch Feuer geben, aber
nicht lebendige Blüten und Früchte.
Diese systematische Entmenschlichung ist
auf dem Gebiete des Handels und der Politik
vor sich gegangen. Und aus den langen Geburtswehen
der mechanischen Energie ist
dieses vollentwickelte Ungeheuer von erstaunlicher
Kraft und überraschendem Appetit hervorgegangen,
das der Westen auf den Namen
Nation getauft hat. Wie ich schon sagte, ist sie,
weil sie eine Abstraktion ist, mit der größten
Leichtigkeit dem Vollmenschen als sittlichem
Wesen weit vorausgeeilt. Und da sie das Gewissen
eines seelenlosen Gespenstes und die49
fühllose Vollkommenheit eines Automaten hat,
führt sie zu Katastrophen, die die vulkanischen
Ausbrüche des jungen Mondes durch ihre zerstörende
Wildheit beschämen. Die Folge ist,
daß das Mißtrauen von Mensch zu Mensch beständig
wie Nesseln diese Kultur an allen Gliedern
reizt. Jedes Land wirft sein Spionagenetz
in die trüben Wasser des andern und fischt
nach dessen Geheimnissen, die in den schlammigen
Tiefen der Diplomatie ausgebrütet werden.
Und was ist ihr geheimes Wirken anders
als das lichtscheue Gewerbe der Nation: Raub,
Mord, Verrat und all die scheußlichen Verbrechen,
die in den tiefsten Abgründen der
Verderbtheit gezeugt werden? Da jede Nation
ihre eigene Geschichte von Raub und Lüge und
Treulosigkeit hat, so kann im Verkehr zwischen
ihnen nur Mißtrauen und Eifersucht gedeihen,
und internationale sittliche Scham wird
in einem Grade blutarm, daß sie ganz jämmerlich
anzusehen ist. Die Nation hat auf ihrem
Dudelsack frommer Entrüstung so oft die Melodie
gewechselt, je nachdem der Wechsel der
Zeiten und der diplomatischen Bündnisse es
forderten, daß man es als amüsante Varietévorstellung50
im politischen Tingeltangel genießen
kann.
Ich komme eben von einer Reise nach Japan
zurück, wo ich diese junge Nation ermahnte,
an ihren höheren Idealen der Menschlichkeit
festzuhalten und nie vom Westen die organisierte
Selbstsucht des Nationalismus als Religion
zu übernehmen, sich nie an der Schwäche
seiner Nachbarn zu weiden, nie gewissenlos
den Schwachen gegenüber zu handeln, an
denen man ungestraft und mit billigem Ruhm
Gemeinheiten begehen kann, während man
seine rechte, von Menschlichkeit strahlende
Wange zum Kuß der Bewunderung denen
reicht, die die Macht dazu haben, ihr einen
Streich zu versetzen. Einige Zeitungen lobten
meine Rede wegen ihrer poetischen Eigenschaften,
während sie mit bezeichnendem
Seitenblick hinzufügten, daß es die Poesie
eines unterworfenen Volkes sei. Ich fühlte,
daß sie recht hatten. Japan hat in einer modernen
Schule gelernt, wie man mächtig wird.
Es hat seine Lehrzeit beendet und will nun
die Früchte seiner Ausbildung genießen. Der
Westen hatte mit der Stimme seiner donnernden51
Kanonen vor den Toren Japans gerufen:
Es werde eine Nation! Und siehe da, es ward
eine Nation. Und nun, da sie da ist, warum
habt ihr nicht im innersten Herzen ein reines
Gefühl der Freude und sagt, daß sie gut ist?
Wie kommt es, daß ich in einer englischen
Zeitung eine Äußerung der Bitterkeit las, als
Japan sich seiner Überlegenheit in der Kultur
rühmte – etwas, was die Engländer sowie
die andern Nationen jahrhundertelang ohne zu
erröten getan haben? Weil der Idealismus der
Selbstsucht sich beständig mit einer Dosis von
Eigenlob berauschen muß. Aber dieselben
Laster, die ihnen bei sich selbst so natürlich
und harmlos erscheinen, fallen ihnen unangenehm
auf und empören sie, sobald sie sie
an andern Nationen gewahren. Wenn ihr daher
die japanische Nation, nach eurem eigenen
Bilde geschaffen, auf dem Fahrwasser nationaler
Prahlerei vom Stapel laufen seht, so
schüttelt ihr den Kopf und sagt: »Es ist nicht
gut.« Ist Japan nicht auch eine Ursache, daß
man hier bei euch die Losung ausgegeben hat,
sich angesichts des neuen drohenden Übels mit
noch größerer Schadenskraft zu rüsten? Japan52
versichert, daß es sein bushido[1] hat, daß es
Amerika gegenüber, dem es Dank schuldet,
nie treulos handeln kann. Aber es wird euch
schwer, ihm zu glauben, denn die Weisheit
der Nation besteht nicht im Glauben an die
Menschheit, sondern im absoluten Mißtrauen.
Ihr sagt euch, daß ihr es nicht mit dem Japan
des bushido, mit dem Japan der sittlichen
Ideale zu tun habt, sondern mit der Abstraktion
der Selbstsucht des Volkes, mit der Nation;
und eine Nation kann nur der andern trauen,
soweit ihre Interessen zusammengehen, oder
wenigstens sich nicht entgegenstehen. Euer Instinkt
sagt euch, daß das Eintreten eines neuen
Volkes in die Arena der Nationalität das Übel
vergrößert, das alledem widerspricht, was das
Höchste im Menschen ist, und das durch seinen
Erfolg beweist, daß Gewissenlosigkeit der Weg
zum Gedeihen ist – und Gutsein gut für die
Schwachen, und Gott der einzig bleibende
Trost der Unterworfenen.
[1] bushido, gewöhnlich mit »Ritterlichkeit« übersetzt,
das ungeschriebene Gesetzbuch des japanischen Rittertums
(der Samurai), überhaupt der Inbegriff der moralischen
Grundsätze des japanischen Volkes.
Ja, dies ist die Logik der Nation. Und sie53
wird nie auf die Stimme von Recht und Wahrheit
hören. Sie wird diesen Reigen sittlicher
Verderbtheit fortsetzen und Stahl an Stahl, Maschine
an Maschine fügen und all die holden
Blumen des frommen Glaubens und der
lebendigen Ideale des Menschen niedertreten.
Aber wir lassen uns zu dem Glauben verleiten,
daß in unserer Zeit mehr Menschlichkeit
herrsche als jemals früher. Der Grund dieser
Selbsttäuschung ist, daß unsere Lebensbedürfnisse
reichlicher befriedigt und unsere physischen
Leiden wirksamer gelindert werden als
früher. Doch dies geschieht in der Hauptsache
nicht durch sittliche Opferfreudigkeit, sondern
durch intellektuelle Kraft. An Umfang ist
dieses Gute groß, aber es kommt nicht aus
der Tiefe und geht nicht in die Tiefe. Kenntnisse
und Leistungsfähigkeit sind mächtig gemessen
an ihrer Wirkung nach außen, aber sie
sind die Diener des Menschen, nicht der Mensch
selbst. Ihr Dienst ist wie die Bedienung in
einem Hotel, wo alles tadellos eingerichtet ist,
aber der Wirt fehlt; es ist mehr bequem als
gastlich.
Daher dürfen wir nicht vergessen, daß die54
systematischen Organisationen, die sich nach
allen Seiten weithin ausbreiten, zwar unsere
Macht stärken, aber nicht unsere Menschlichkeit.
Mit der zunehmenden Macht der Nation
wächst ihre Selbstanbetung und erhält das
Übergewicht. Der einzelne läßt die Nation bereitwillig
auf seinem Rücken reiten, und so
geschieht das Naturwidrige, das so großes Unglück
im Gefolge hat, daß der Mensch mit
allen Opfern einen Gott verehrt, der sittlich
viel tiefer steht als er selbst. Dies hätte nie geschehen
können, wenn der Gott so wirklich
wäre, wie der Mensch selbst.
Laßt mich hierzu eine treffende Erläuterung
geben. In einigen Teilen Indiens wird es
der Witwe als besonderer Akt der Frömmigkeit
auferlegt, sich alle vierzehn Tage einen
ganzen Tag lang des Essens und Trinkens gänzlich
zu enthalten. Dies führt oft zu sinnloser
und unmenschlicher Grausamkeit. Und doch
sind die Menschen von Natur nicht in dem
Maße grausam. Aber da diese Frömmigkeit
nichts als ein toter Begriff ist, so tötet sie
das sittliche Gefühl des Menschen vollständig,
ebenso wie ein Mensch, der sonst kein Tier55
unnötig quälen würde, doch einer großen
Menge unschuldiger Geschöpfe furchtbare
Leiden verursacht, wenn er sein Gefühl mit
der Idee »Sport« betäubt hat. Weil diese Ideen
Erzeugnisse des Intellekts, logische Klassifikationen
sind, können sie den persönlichen Menschen
so leicht in ihren Nebel einhüllen.
Und die Idee der Nation ist eins der wirksamsten
Betäubungsmittel, die der Mensch erfunden
hat. Unter dem Einfluß seiner Dünste
kann ein ganzes Volk sein systematisches Programm
krassester Selbstsucht ausführen, ohne
sich im geringsten seiner sittlichen Verderbtheit
bewußt zu werden – ja, es wird gefährlich
gereizt, wenn man es darauf hinweist.
Aber kann dies in alle Ewigkeit so fortgehen,
daß das sittliche Gefühl des Menschen
immer mehr abstumpft? Wird es sich nicht
irgendeinmal rächen? Wird diese riesige Organisationsmaschine
in dieser Welt nicht eines
Tages auf eine Schranke stoßen, die ihre
rasende Fahrt aufhält und sie zertrümmert?
Glaubt ihr denn wirklich, daß man das Böse
auf die Dauer dadurch in Schach halten kann,
daß man es zu überbieten sucht, und daß kluge56
Beratung den Teufel in dem Käfig der »gegenseitigen
Vereinbarungen« festhalten kann, in
dem man ihn provisorisch untergebracht hat?
Dieser Krieg der europäischen Nationen ist
ein Vergeltungskrieg. Der Mensch als solcher
muß sich mit allen Kräften dagegen wehren,
daß tote Dinge an Stelle des Herzens treten und
Systeme und Staatskunst an Stelle lebendiger
Beziehung von Mensch zu Mensch. Die Zeit ist
gekommen, wo um der ganzen schmählich
mißhandelten Menschheit willen Europa am
eigenen Leibe die furchtbare Sinnwidrigkeit
dessen, was man Nation nennt, in ihrem ganzen
Umfange spüren muß.
Die Nation ist lange auf Kosten der verstümmelten
Menschlichkeit gediehen. Die
Menschen, die vollkommensten Geschöpfe
Gottes, gingen aus dieser nationalen Fabrik zu
großen Scharen als Krieg und Geld machende
Drahtpuppen hervor, lächerlich eitel auf die
erbärmliche Vollkommenheit ihres Mechanismus.
Die menschliche Gesellschaft wurde
immer mehr zu einem Marionettentheater von
Politikern, Soldaten, Fabrikanten und Bureaukraten,
die durch großartig funktionierende57
Drahteinrichtungen hin- und herbewegt werden.
Aber die ganze Brut der Selbstsucht: Haß
und Gier, Furcht und Heuchelei, Argwohn und
Tyrannei, ist auf die Dauer nicht lebensfähig.
Diese Ungeheuer wachsen zu einer Riesengröße
an, aber das Ebenmaß fehlt ihnen. Und der
Leib dieser Nation, der nicht aus Fleisch und
Blut, sondern aus Stahl und Dampf und Amtsgebäuden
besteht, kann zu einer immer phantastischeren
Ungeheuerlichkeit anschwellen,
bis endlich die Mißgestalt ihren ganzen Umfang
nicht mehr zusammenhalten kann – sie
wird anfangen zu krachen und zu bersten, keuchend
giftige Dämpfe und Feuer auszuspeien,
und wir hören im Donner der Kanonen ihr
Todesröcheln. In diesem Kriege hat der Todeskampf
der Nation angefangen. Ihr ganzer
Mechanismus ist plötzlich toll geworden und
hat einen Furientanz begonnen, indem er seine
eigenen Glieder zerschmettert und in den Staub
wirft. Es ist der fünfte Akt der Tragödie des
falschen Scheins.
Die irgendwelchen Glauben an die Menschheit
haben, können nur sehnlichst hoffen, daß58
die Tyrannei der Nation nicht ihre frühere Gestalt
unversehrt zurückerhält: ihre Zähne und
Klauen, ihre weitreichenden Eisenarme und
ihre ungeheure innere Hohlheit, wo alles Magen
ist und kein Herz; sie müssen hoffen, daß der
Mensch aus dem Nebelmeer von Abstraktionen,
das ihn einhüllte, zur Freiheit der Persönlichkeit
neu geboren wird.
Dieser furchtbare Krieg hat den Schleier gehoben,
und der Westen steht Antlitz in Antlitz
seiner Schöpfung gegenüber, der er seine Seele
geopfert hat. Jetzt muß er wissen, was das
für eine Schöpfung ist.
Er hat nie geahnt, wie in seiner sittlichen
Natur ein Prozeß von langsamem und unmerklichem
Absterben und Verwesen vor sich ging,
der sich bald in skeptizistischen Lehren kund
gab, bald und noch öfter und anscheinend
harmloser, aber darum gefährlicher, in der
Ahnungslosigkeit von all der Verstümmelung
und Schmach, die er einem großen Teil der
Menschheit zugefügt hat. Jetzt muß er die
Wahrheit durch eigene Erfahrung lernen.
Und dann werden unter seinen eigenen Kindern
solche aufstehen, die sich aus der Knechtschaft59
der gegenwärtigen Illusion befreien, aus
dieser Verderbtheit einer Verbrüderung, die
auf Selbstsucht gegründet ist. Sie werden erkennen,
daß sie Gottes Kinder sind und nicht
Sklaven einer Maschinerie, die Seelen in Ware
verwandelt und das Leben in Fächer einteilt,
die mit ihren eisernen Klauen der Welt das
Herz ausreißt und nicht weiß, was sie getan hat.
Und wir Nationslosen, deren Haupt bis in
den Staub gebeugt ist, wir wollen uns sagen,
daß dieser Staub heiliger ist als die Ziegelsteine,
aus denen die Macht ihr stolzes Schloß aufrichtet.
Denn dieser Staub ist fruchtbar an
Leben und Schönheit und Erhabenheit. Wir
wollen Gott danken, daß es unser Los war, in
Schweigen die Nacht der Trübsal und Verzweiflung
hindurch zu wachen, den Hohn der
Stolzen und die Last des Gewaltigen zu tragen,
daß wir in all dem Leiden, obgleich unser Herz
von Zweifeln und Furcht bebte, dem blinden
Glauben an das Heil durch die Maschine widerstanden
und festhielten an unserem Vertrauen
auf Gott und die menschliche Seele. Und wir
hegen doch noch die Hoffnung, daß, wenn die
Macht beschämt von ihrem Thron herabsteigt60
und der Liebe Platz macht, wenn der Morgen
kommt, wo die blutigen Spuren, die die Nation
zurückließ, als sie durch die Menschheit hinschritt,
hinweggewaschen werden, man uns
ruft, auf daß wir unser heiliges Gefäß mit
Weihwasser bringen, um die menschliche Geschichte
wieder zu reinigen und den zertretenen
Staub der Jahrhunderte wieder mit Fruchtbarkeit
zu segnen.
61
NATIONALISMUS IN JAPAN
Die schlimmste Form der Knechtschaft ist
es, wenn wir der Verzagtheit anheimfallen,
denn sie raubt uns den Glauben an uns selbst
und damit jede Hoffnung auf Befreiung. Man
hat uns wiederholt und mit einem gewissen
Recht gesagt, daß Asien in der Vergangenheit
lebt – es ist wie ein reiches Mausoleum, das
alle seine Pracht entfaltet, um die Toten unsterblich
zu machen. Man hat von Asien gesagt,
daß es niemals den Pfad des Fortschritts
beschreiten könne, weil es nicht anders könne
als den Blick nach rückwärts richten. Wir
nahmen diesen Vorwurf hin und hielten ihn
schließlich für berechtigt. Ich weiß, daß in
Indien eine große Anzahl unserer Gebildeten
die Demütigung, die in diesem Vorwurf liegt,
nicht ertragen kann und nun ihre ganze Fähigkeit
zum Selbstbetrug aufbietet, um ihn in ein
Lob zu verwandeln und damit zu prahlen. Aber62
Prahlerei ist nur Schamgefühl unter falscher
Maske, sie glaubt nicht wirklich an sich.
Als die Dinge so standen und wir Bewohner
Asiens uns in den Glauben hinein hypnotisierten,
daß es immer so bleiben müsse und auf
keine Weise anders werden könne, erwachte
plötzlich Japan aus seinem Schlummer, holte
mit Riesenschritten die müßig verträumten
Jahrhunderte nach und stand bald mit seinen
Leistungen in der vordersten Reihe seiner
modernen Zeitgenossen. Dies hat den Zauber
gebrochen, in dem wir jahrhundertelang gebannt
lagen, als wir glaubten, unser Los sei
nun einmal das Los bestimmter Völker unter
bestimmten Himmelsstrichen. Wir hatten vergessen,
daß in Asien einst große Königreiche
gegründet wurden, daß Philosophie, Wissenschaft,
Kunst und Literatur bei uns blühten und
alle großen Religionen hier ihre Wiege hatten.
Man kann daher nicht sagen, daß in dem Boden
und Klima Asiens irgend etwas ist, was geistige
Untätigkeit erzeugt oder im Menschen den
Trieb zum Fortschritt verkümmern läßt. Jahrhundertelang
haben wir in Asien die Fackel der
Kultur hochgehalten, als der Westen noch im63
Dunkel schlummerte und dies kann doch nicht
das Zeichen von geistiger Schwerfälligkeit und
engem Horizont sein.
Dann kam eine Zeit, wo das Dunkel der
Nacht sich auf alle Länder des Ostens legte. Der
Strom der Zeit schien plötzlich stillzustehen,
und Asien hörte auf, neue Nahrung zu sich zu
nehmen; es fing an, sich von seiner Vergangenheit,
das heißt in Wahrheit, von sich selbst zu
nähren. Es lag in Totenstille da, und die
Stimme, die einst ewige Wahrheiten mit lautem
Ruf verkündet und viele Menschenalter
hindurch das Menschenleben rein gehalten
hatte, wie der Ozean von Luft die Erde umspült
und reinigt, – diese Stimme war verstummt.
Aber das Leben braucht auch seinen Schlaf,
seine Perioden der Untätigkeit, wo seine Bewegungen
aufhören, wo es keine neue Nahrung
zu sich nimmt und von den Vorräten
seiner Vergangenheit lebt. Dann wird es hilflos,
seine Muskeln erschlaffen, und es ist leicht,
es wegen seiner Stumpfheit zu verhöhnen. Im
Rhythmus des Lebens sind diese Pausen nötig,
damit das Leben sich erneuern kann. Ein tatenvolles64
Leben verausgabt sich beständig, verbrennt
all sein Öl. Diese Verschwendung kann
nicht unbegrenzt weitergehen, sondern immer
muß ihr eine Zeit der Passivität folgen, wo keine
Kräfte mehr verbraucht und keine Abenteuer
mehr unternommen werden dürfen, wo Ruhe
erste Pflicht ist, damit die Lebenskraft allmählich
wieder wachsen kann.
Unser Geist neigt von Natur zur Sparsamkeit,
er liebt es, Gewohnheiten anzunehmen
und sich auf ausgefahrenen Gleisen zu bewegen,
die ihm die Mühe sparen, bei jedem
Schritt nachzudenken. Fertig übernommene
Ideale machen den Geist träge. Er fürchtet,
seinen Besitz zu verlieren, im Ringen nach
neuem Erwerb. Er versucht, ihn sich zu sichern,
indem er ihn in einer Festung von Gewohnheiten
verschließt. Aber dies heißt in Wahrheit,
sich den vollen Genuß seines Besitzes unmöglich
machen. Es ist Geiz. Die lebendigen
Ideale dürfen nicht die Berührung mit dem
wachsenden, wechselnden Leben verlieren.
Nicht innerhalb sie sorglich hütender Schranken
sind sie wahrhaft frei, sondern draußen
auf der Landstraße des Lebens mit all ihren65
Abenteuern und Möglichkeiten neuer Erfahrungen.
Eines Morgens blickte die ganze Welt in
Staunen auf: Japan hatte in der Nacht die
Mauern seiner alten Gewohnheiten durchbrochen
und trat triumphierend daraus hervor.
Es war in einer so unglaublich kurzen Zeit geschehen,
wie das Wechseln eines Gewandes,
nicht wie das langsame Errichten eines neuen
Baues. Das neue Japan zeigte zugleich das zuversichtliche
Kraftbewußtsein des reifen Alters
und die Frische und unendliche Möglichkeitsfülle
neu erwachten Lebens. Man fürchtete damals,
daß es sich nur um eine plötzliche Laune
der Geschichte handelte, um ein kindisches
Spiel der Zeit, eine Seifenblase, zwar vollkommen
in ihrer Rundung und Farbenschönheit,
doch innen hohl und ohne Gehalt. Aber
Japan hat endgültig gezeigt, daß die plötzliche
Offenbarung seiner Macht nicht ein kurzlebiges
Wunder war, eine zufällige und vorübergehende
Erscheinung im Zeitenstrom, aus der
dunklen Tiefe heraufgeschleudert, um im
nächsten Augenblick mit den Fluten hinweggerissen
zu werden ins Meer der Vergessenheit.
66Denn Japan ist alt und modern zugleich.
Es hat sein Erbe alter östlicher Kultur, jener
Kultur, die dem Menschen zur Pflicht macht,
wahren Reichtum und wahre Kraft in sich
selbst, in seiner Seele zu suchen, jener Kultur,
die ihm inneren Halt gibt gegenüber Verlust
und Gefahr, die ihn opferwillig macht, ohne
daß er an das denkt, was es ihn kostet, oder auf
Lohn hofft, die ihn lehrt, dem Tod zu trotzen
und sich den unzähligen Verpflichtungen zu
unterwerfen, die er als Glied der Gesellschaft
seinen Mitmenschen gegenüber hat. Es besitzt
das Erbe jener Kultur, die uns in allen endlichen
Dingen die Vision des Unendlichen gegeben
hat, durch die wir erkannt haben, daß
das Weltall von Leben und Seele durchtränkt
ist, daß es nicht eine ungeheure Maschine ist,
die einst vom Teufel Zufall zum Vorschein gebracht
oder von einem teleologischen Gott geschaffen
wurde, der in einem fernen Himmel
lebt. Mit einem Wort, das moderne Japan ist
aus dem uralten Osten entsprossen wie die
Lotusblume, die sich leicht und anmutig in der
Luft wiegt und doch fest und tief in dem
Boden wurzelt, dem sie entsprungen.
67Und Japan, dies Kind des alten Ostens, hat
doch keck nach allen Gaben des modernen Zeitalters
gegriffen. Es hat seinen kühnen Geist
gezeigt, indem es die Schranken der Gewohnheit
durchbrach, welche Trägheit nach und
nach aufgerichtet hatte; seine eigene Tüchtigkeit
und Wachsamkeit sollten hinfort seine
Sicherheit und sein Schutz sein. So ist es in
Berührung gekommen mit dem Leben der Zeit
und hat mit bewundernswertem Eifer und erstaunlicher
Begabung die Verpflichtungen der
modernen Zivilisation auf sich genommen.
Dies ist es, was dem übrigen Osten Mut gemacht
hat. Wir haben erkannt, daß Leben und
Kraft in uns ist, es gilt nur, die trockene Rinde
abzuwerfen und nackt hineinzutauchen in den
verjüngenden Strom der Zeit. Wir haben erkannt,
daß seine Zuflucht zu toten Dingen
nehmen Tod bedeutet, und daß nur der lebt,
der das ganze volle Wagnis des Lebens auf sich
nimmt.
Ich meinesteils kann nicht glauben, daß
Japan das geworden ist, was es ist, dadurch,
daß es dem Westen nachahmte. Wir können
Leben nicht nachahmen, Kraft nicht lange68
heucheln, ja, bloßes Nachahmen tötet die
Kraft, die da ist. Denn es fesselt unsere wahre
Natur und hemmt uns überall. Es ist, als ob
wir über unsere Knochen die Haut eines andern
Menschen zögen und so zwischen beiden einen
ewigen Kampf schüfen.
Die Wahrheit ist, daß die Wissenschaft nicht
zur Natur des Menschen gehört; sie ist nur
etwas Erlerntes und durch Schulung Erworbenes.
Wenn ihr die Gesetze der äußeren Natur
kennt, so ändert das noch nichts an eurer
menschlichen Natur. Wissen könnt ihr von
andern borgen, aber nicht Gaben des Gemüts.
Aber in der ersten Zeit unserer Ausbildung,
wo wir noch nichts weiter tun als nachmachen,
können wir noch nicht zwischen
Wesentlichem und Unwesentlichem, zwischen
Übertragbarem und Nichtübertragbarem unterscheiden.
Es ist wie mit dem Glauben des primitiven
Geistes an die Zauberkraft zufälliger
äußerer Formen, in denen sich ihm eine Wahrheit
kundgibt. Wir fürchten, etwas Wertvolles
und Wirksames zurückzulassen, wenn wir nicht
die Schale mit dem Kern verschlucken. Aber
während unsere Gier immer das Ganze sich69
aneignen will, verleiben unsere Leben schaffenden
Organe die nährenden Stoffe dem Körper
ein, und dies ist die rechte Art, wie ein lebendiger
Organismus von den Dingen Besitz
nimmt. Wo Leben ist, da behauptet es sich
sicher dadurch, daß es das auswählt, was es
zu seiner Erhaltung braucht, und das Schädliche
zurückweist. Der lebendige Organismus
wächst nicht in seine Nahrung hinein, sondern
seine Nahrung wächst in ihn hinein. Und nur
so kann er stark werden, nicht indem er sie
nur in sich anhäuft oder indem er sich selbst
aufgibt.
Japan hat seine Nahrung vom Westen eingeführt,
aber nicht seine Lebensorgane. Japan
kann nicht ganz in der wissenschaftlichen Ausstaffierung,
die es vom Westen bekommen hat,
untertauchen und zu einer bloßen übernommenen
Maschine werden. Es hat seine eigene
Seele, die sich vor allen andern Bedürfnissen
geltend machen muß. Daß sie dies kann und
daß Japan es versteht, die neuen Errungenschaften
sich in rechter Weise zu eigen zu
machen, das beweisen reichlich die Zeichen
kräftiger Gesundheit, die wir an ihm wahrnehmen.70
Und ich hoffe aufrichtig, daß Japan
über dem Stolz auf seine modernen Errungenschaften
nie den Glauben an seine Seele verlieren
wird, denn schon jener Stolz ist eine
Demütigung und führt am Ende zu Armut und
Schwäche. Es ist der Stolz des Gecken, der
größeren Wert auf seine Kopfbedeckung legt
als auf den Kopf selbst.
Die ganze Welt wartet, um zu sehen, was
dieses große Volk des Ostens nun anfangen
wird mit den Möglichkeiten und Verpflichtungen,
die es aus den Händen der modernen
Zeit empfangen hat. Ist es nur eine Nachbildung
des Westens, so werden die großen Erwartungen,
die es erweckt hat, unerfüllt bleiben.
Denn es sind ernste Fragen, die die westliche
Zivilisation aufgeworfen und noch nicht
ganz gelöst hat. Der Konflikt zwischen Staat
und Individuum, Arbeit und Kapital, Mann
und Frau; der Konflikt zwischen materieller
Gewinnsucht und Bedürfnis nach geistigem
Leben, zwischen der organisierten Selbstsucht
der Völker und den höheren Idealen der
Menschlichkeit, und all die schlimmen Konflikte,
die sich ergeben aus dem Gegensatz71
zwischen den riesigen Organisationen des Handels
und des Staates und den natürlichen Instinkten
des Menschen, die nach Einfachheit,
Schönheit und Muße rufen – dies alles soll in
Harmonie gebracht werden auf einem Wege,
den noch niemand ahnt.