Nationalismus
Nationalismus-3
Wir haben gesehen, wie dieser große Strom
der Zivilisation sich staute und gehemmt wurde
durch die Trümmer, die seine unzähligen Kanäle
ihm zutrugen. Wir haben gesehen, daß bei
all ihrer vielgepriesenen Menschenliebe die Zivilisation
sich selbst als die größte Bedrohung
für den Menschen erwies, eine weit schlimmere
als die plötzlichen Überfälle nomadischer Barbaren,
durch die die Menschen in früheren
Zeitaltern litten. Wir haben gesehen, daß sie,
trotzdem sie mit ihrer Freiheitsliebe prahlte,
schlimmere Formen der Sklaverei schuf, als
je in einer menschlichen Gesellschaft üblich
waren – eine Sklaverei, deren Ketten unzerbrechlich
sind, entweder weil sie unsichtbar
sind oder weil sie Namen und äußeren Schein
der Freiheit haben. Wir haben gesehen, wie
der Mensch im Bann ihrer ungeheuren Gemeinheit
den Glauben verliert an all die hohen72
Ideale des Lebens, die ihn groß gemacht
haben.
Daher könnt ihr Japaner nicht leichten Herzens
die moderne Zivilisation annehmen mit
all ihren Tendenzen, Methoden und Einrichtungen,
in der Meinung, daß das alles dazu
gehört. Ihr müßt euren östlichen Sinn, eure
geistige Kraft, eure Liebe zur Einfachheit,
eure Gefühle für soziale Verpflichtungen einsetzen,
um einen neuen Weg zu bahnen für
diesen großen, ungelenken, mißtönig rollenden
Triumphwagen des Fortschritts. Ihr müßt die
ungeheuren Opfer an Menschenleben und Freiheit,
die er bei jedem Schritt auf seinem Wege
fordert, auf das kleinste Maß bringen. Viele
Menschenalter hindurch habt ihr auf eure
eigene Art gefühlt, gedacht und gearbeitet,
euch gefreut und eure Götter verehrt. Diese
eure Art könnt ihr nicht wie ein altes Gewand
ablegen. Denn sie ist in eurem Blut, in dem
Mark eurer Knochen, in dem Gewebe eures
Fleisches, in den Windungen eures Gehirns,
und sie muß allem, was ihr berührt, ihren
Stempel geben, ohne euer Wissen, selbst gegen
euren Willen. Einst fandet ihr doch eine Lösung73
für die menschlichen Probleme, die euch
befriedigte, und ihr hattet eure eigene Lebensphilosophie
und eure eigene Lebenskunst. Dies
alles müßt ihr jetzt auf die gegenwärtige
Lage anwenden, und daraus wird eine neue
Schöpfung entstehen, keine bloße Wiederholung
– eine Schöpfung, welche ganz der
Seele eures Volkes gehört und welche sie stolz
der Welt darbietet als ihren Beitrag zum Wohl
der Menschheit. Von allen Ländern in Asien
habt ihr in Japan die Freiheit, das, was ihr
vom Westen bekommen habt, nach eurem Sinn
und eurem Bedürfnis zu nutzen. Ihr habt das
Glück, nicht eingeengt zu sein von außen; daher
ist eure Verantwortlichkeit um so größer,
denn ihr antwortet im Namen ganz Asiens auf
die Fragen, die Europa der Menschheit vorgelegt
hat. In eurem Lande werden die Versuche
fortgeführt, wodurch der Osten das Bild
der modernen Zivilisation ändern wird, indem
er da Leben einhaucht, wo sie Maschine ist,
an Stelle kalter Berechnung menschliches Gefühl
setzt, nicht so sehr nach Macht und Erfolg
fragt, als nach harmonischem und lebendigem
Wachstum, nach Wahrheit und Schönheit.
74Ich muß euch an jene Zeiten erinnern, als
der ganze Osten Asiens von Birma bis Japan
mit Indien verbunden war durch das Band
engster Freundschaft, das einzig natürliche
Band, das zwischen Völkern bestehen kann.
Damals bestand eine unmittelbare Verbindung
von Herz zu Herz; wir bildeten alle zusammen
ein lebendiges Nervensystem, wir spürten
gleichzeitig die tiefsten Bedürfnisse der
Menschheit. Wir lebten nicht in Furcht voreinander,
wir brauchten uns nicht zu bewaffnen,
um einander in Schach zu halten.
Nicht Eigennutz und Habgier trieb uns zueinander,
Ideen und Ideale wurden ausgetauscht,
Gaben der höchsten Liebe dargeboten und
empfangen. Verschiedenheit der Sprachen und
Sitten hinderten nicht die innigste Seelengemeinschaft;
kein Rassenstolz, keine freche
Überhebung im Bewußtsein körperlicher oder
geistiger Überlegenheit störte unsere Beziehung;
neue Blätter und Blüten entsprossen
dem Boden unserer Kunst und Literatur unter
dem Sonnenlicht der Menschenliebe, und Völker
von verschiedenen Ländern, Sprachen und
Vergangenheiten bekannten sich zu dem, was75
die höchste Einheit der Menschen bildet und
das stärkste Liebesband. Wollen wir nicht auch
daran denken, daß damals, in jenem goldenen
Zeitalter, als die Menschen gemeinsam nach
den höchsten Lebenszielen strebten, eure Natur
den Balsam der Unsterblichkeit für sich aufspeicherte,
der eurem Volk zur Wiedergeburt
in einem neuen Zeitalter verholfen hat und
ihm die Kraft gegeben, seinen alten verbrauchten
Leib abzutun und einen neuen Leib anzulegen
und unversehrt hervorzugehen aus der
Erschütterung der wunderbarsten Umwälzung,
die die Welt je gesehen hat?
Die politische Kultur, die auf dem Boden
Europas gewachsen ist und sich wie üppig
wucherndes Unkraut über die ganze Erde ausgebreitet
hat, gründet sich auf Ausschließlichkeit.
Sie ist immer darauf bedacht, Fremde
in Schach zu halten oder zu vernichten. Sie
ist kannibalisch in ihren Neigungen, nährt
sich von dem, was andere Völker notwendig zu
ihrem Leben brauchen, und versucht, deren
ganze Zukunft zu verschlingen. Sie fürchtet
immer, daß andere Rassen auch zu Bedeutung
gelangen, und erklärt es als eine Gefahr, und76
sie versucht, alle Keime von Größe außerhalb
ihrer Grenzen zu ersticken, indem sie die
Rassen, die schwächer sind als sie, zu Boden
wirft, damit sie auf ewig in ihrer Schwäche
verharren. Bevor diese politische Kultur zur
Herrschaft kam und ihren hungrigen Rachen
weit genug öffnete, um ganze Erdteile zu
verschlingen, hatten wir wohl Kriege, Plünderungen,
gewaltsame Thronwechsel, die Elend
im Gefolge hatten, aber nie sahen wir solche
furchtbare und hoffnungslose Raubgier, solch
ein gegenseitiges Sichauffressen von Nationen,
solche riesigen Maschinen zum Zerhacken ganzer
Erdteile, nie sahen wir solche entsetzlichen
Ausgeburten von Eifersucht, die immer ihre
scheußlichen Zähne und Klauen bereit haben,
sich gegenseitig die Eingeweide zu zerfleischen.
Diese politische Kultur ist wissenschaftlich,
nicht menschlich. Sie ist mächtig, weil
sie alle ihre Kräfte auf ein Ziel richtet, wie
der Millionär, der Geld erwirbt auf Kosten
seiner Seele. Sie verrät das Vertrauen, schamlos
spinnt sie Lügennetze, stellt riesige Götzenbilder
der Gier in ihren Tempeln auf und ist
sehr stolz auf die kostspieligen Zeremonien77
ihres Gottesdienstes, den sie Patriotismus nennt.
Und man kann mit Gewißheit prophezeien,
daß solch Treiben ein Ende finden muß, denn
es gibt in dieser Welt ein sittliches Gesetz, dem
nicht nur der einzelne, sondern auch die organisierten
Gemeinschaften unterworfen sind.
Ihr könnt nicht diese Gesetze im Namen eurer
Nation beständig verletzen und als Individuen
ihren Segen genießen. Dies öffentliche Untergraben
der menschlichen Ideale wirkt auf jedes
Mitglied der Gesellschaft, es macht allmählich
und unmerklich die Menschen schwach und
erzeugt jenes zynische Mißtrauen gegen alles,
was in der menschlichen Natur heilig und ehrwürdig
ist, das sichere Anzeichen von Greisenhaftigkeit.
Ihr müßt bedenken, daß diese politische
Kultur, diese Religion des nationalen
Patriotismus, noch nicht lange auf die Probe
gestellt ist. Die Fackel des alten Griechenlands
ist in dem Lande, wo sie zuerst entzündet
wurde, erloschen. Roms Macht liegt tot und
begraben unter den Trümmern seines großen
Reiches. Aber die Kultur, die sich auf die
natürliche Gesellschaft und auf die geistigen
Ideale der Menschen gründet, lebt noch in78
China und Indien. Wenn sie, an dem Maßstab
der mechanischen Kraft unserer heutigen
Zeit gemessen, auch schwach und klein
aussieht, so gleicht sie doch den kleinen
Samenkörnern, die Leben enthalten; sie wird
emporsprießen und wachsen, ihre wohltätigen
Zweige ausbreiten und Blüten und Früchte
hervorbringen, wenn ihre Zeit kommt und
der befruchtende Segen des Himmels auf sie
herabströmt. Aber die Trümmer von Wolkenkratzern
und zerbrochenen Maschinen, die
traurigen Reste von Macht und Gier, kann
selbst Gottes Segen nicht wieder aufrichten,
denn sie waren nicht Kinder des Lebens, sondern
Feinde allen Lebens – sie sind Spuren
des Aufruhrs, der im Kampf gegen das Ewige
zerschellte.
Aber man macht uns den Vorwurf, daß
unsere Ideale unbeweglich sind, daß sie nicht
die Triebkraft haben, uns zu neuen Ausblicken
zu führen und neue Gebiete von Wissen und
Macht zu erschließen, daß die philosophischen
Systeme, die Hauptstützen der morschen
östlichen Kultur, alle äußeren Beweise
verschmähen und in ihrer subjektiven Gewißheit79
sich töricht zufriedengeben. Dies beweist
nur, daß wir, wenn unser Wissen unklar ist,
geneigt sind, dem Gegenstand unseres Wissens
Unklarheit vorzuwerfen. Für einen europäischen
Beobachter ist unsere Kultur nichts als
Metaphysik, wie für einen Tauben das Klavierspiel
nur Fingerbewegung, aber nicht Musik
ist. Er kann es nicht glauben, daß diese Kultur
eine tiefe, lebendige Wirklichkeit als Grundlage
hat, auf der sich unser Leben aufbaut.
Unglücklicherweise ist der Beweis für die
Wirklichkeit eines Dinges nur seine sichtbare
Vergegenwärtigung. An die Wirklichkeit eurer
Umgebung glaubt ihr, weil ihr sie seht, aber
es ist schwer, einem Ungläubigen zu beweisen,
daß unsere Kultur nicht ein nebelhaftes System
von abstrakten Spekulationen ist, daß sie
uns etwas gegeben hat, was positive Wahrheit
ist – eine Wahrheit, die dem Menschenherzen
Schutz und Nahrung gibt. Sie hat einen
innern Sinn in uns entwickelt, die Gabe, in
allen endlichen Dingen das Unendliche zu
schauen.
»Aber«, sagt der Europäer weiter, »ihr
macht gar keine Fortschritte, in euch ist keine80
Bewegung.« Ich frage ihn: Woher wißt ihr
das? Fortschritte wollen nach ihrem Ziel beurteilt
werden. Der Eisenbahnzug macht seine
Fortschritte auf die Endstation zu – das ist
Bewegung. Aber ein ausgewachsener Baum hat
keine Bewegung dieser Art, sein Fortschritt
ist der Fortschritt des Lebens in ihm. Er lebt,
und sein Streben zum Licht tönt in seinen Blättern
und rinnt in seinem Saft.
Auch wir haben jahrhundertelang gelebt,
leben noch und streben nach einer Wirklichkeit,
deren Erfüllung kein Ende hat – nach
einer Wirklichkeit, die über den Tod hinausgeht
und ihm erst einen Sinn gibt, die sich über
alles Elend und alle Trübsal dieser Welt erhebt
und in freudiger Entsagung Frieden und
Reinheit bringt. Die Frucht dieses inneren
Lebens ist lebendige Frucht. Nach ihr verlangt
der Jüngling, wenn er müde und staubbedeckt
heimkehrt, der Soldat, wenn er verwundet ist;
nach ihr verlangt man, wenn der Reichtum
verpraßt und der Stolz gedemütigt ist, wenn
das Menschenherz in dem verwirrenden Durcheinander
der Tatsachen nach Wahrheit und im
Widerstreit seiner Neigungen nach Harmonie81
ruft. Ihr Wert liegt nicht in ihrer äußeren
Fülle, sondern in ihrer Vollkommenheit.
Es gibt Dinge, die nicht warten können.
Wollt ihr kämpfen oder den besten Platz auf
dem Markt haben, so müßt ihr euch in Marsch
setzen und laufen und stürzen. Ihr spannt
eure Nerven aufs äußerste an und seid immer
auf dem Posten, wenn ihr Gelegenheiten ergreifen
wollt, die sich nur im Fluge erhaschen
lassen. Aber es gibt Ideale, die nicht ein Versteckspiel
treiben mit unserm Leben; sie
wachsen langsam vom Samenkorn zur Blüte
und von der Blüte zur Frucht; sie brauchen
unendlich viel Raum und Himmelslicht, um
zu reifen, und die Früchte, die sie tragen,
können jahrelang verschmäht und vergessen
liegen, ohne daß sie faulen. Der Osten mit
seinen Idealen, der in seinem Busen das Licht
der Sonne und das Schweigen der Sterne von
Jahrhunderten bewahrt, kann geduldig warten,
bis dem Westen, der dem Nutzen nacheilt, der
Atem ausgeht und er stillsteht. Europa wirft,
während es eiligst zu seinen Geschäften fährt,
einen verächtlichen Blick aus dem Wagenfenster
des Zuges auf den Schnitter, der auf82
dem Felde sein Getreide mäht, und in der
rasenden Geschwindigkeit der Fahrt muß es
ihm vorkommen, als ob der da draußen sehr
langsam wäre und immer weiter zurückginge.
Aber die Geschwindigkeit nimmt einmal ein
Ende, die Geschäfte verlieren ihren Sinn, und
das hungernde Herz Europas jammert nach
Nahrung, bis es endlich zu dem bescheidenen
Schnitter kommt, der im Sonnenschein seine
Ernte einbringt. Denn wenn auch das Geschäft
und das Kaufen und Verkaufen oder die Vergnügungssucht
nicht warten können, die Liebe
wartet und mit ihr die Schönheit und die Weisheit
im Leiden und all die Früchte frommer
Demut und gläubiger Hingebung. Und so wird
der Osten warten, bis seine Zeit kommt.
Ich will jedoch nicht zögern, das Große in
Europa anzuerkennen, denn Großes hat es ohne
Zweifel. Wir können nicht anders als es von
Herzen lieben und bewundern – dies Europa,
von dem sich in Kunst und Literatur ein
unerschöpflicher Strom von Schönheit und
Wahrheit ergießt, alle Länder und Zeiten befruchtend;
dies Europa, das mit titanischem
Geiste in nie ermüdender Kraft die Höhen und83
Tiefen des Weltalls durchmißt, das unendlich
Große und unendlich Kleine mit seinem
Wissen umfaßt und alle Kräfte von Herz und
Verstand dazu verwendet, die Kranken zu
heilen und all das Elend zu mildern, das wir
bis jetzt in hoffnungsloser Resignation hinnahmen,
dies Europa, das die Erde dahin
bringt, uns mehr Frucht zu spenden, als möglich
schien, indem es mit Güte und Gewalt
alle großen Kräfte der Natur in den Dienst
des Menschen zwingt. Wahre Größe wie diese
kann nur auf Geistesstärke beruhen. Denn nur
der Geist des Menschen kann seines endlichen
Erfolges gewiß, allen Schranken trotzen, seinen
Scheinwerfer hinter das unmittelbar vor Augen
Liegende richten, freudig zum Märtyrer werden
für ferne Ziele, die er selbst nie erreichen
kann und von denen er durch keinen Fehlschlag
sich abbringen läßt. Im Herzen Europas
fließt der reinste Strom von Menschenliebe,
Gerechtigkeitsliebe und Opferwillen für
höhere Ideale. Jahrhundertelange christliche
Kultur hat es tief bis ins Lebensmark durchdrungen.
Wir haben gesehen, wie zu allen
Zeiten in Europa edle Geister für die Rechte84
des Menschen ohne Rücksicht auf Farbe und
Bekenntnis eintraten, wie sie, Verleumdungen
und Schmähungen von Seiten ihres eigenen
Volkes trotzend, für die Sache der Menschheit
kämpften und ihre Stimmen erhoben gegen die
wilden Orgien des Militarismus, gegen die Raserei
brutaler Rachgier und Raubsucht, die bisweilen
ein ganzes Volk ergreift. Wir sehen,
wie sie immer bereit sind, das Unrecht wieder
gutzumachen, das ihre eigenen Nationen früher
andern zugefügt, und wie sie vergebens versuchten,
die Flut feigherziger Ungerechtigkeit
aufzuhalten, die ungehindert weiter strömt,
weil der Widerstand von Seiten der Geschädigten
schwach und ohne Wirkung ist. Sie sind
da, diese fahrenden Ritter des modernen Europas,
die den Glauben nicht verloren haben an
selbstlose Liebe zur Freiheit, an die Ideale, die
keine nationale Selbstsucht und keine geographischen
Schranken kennen. Sie sind da, und
beweisen uns, daß die Quellen ewigen Lebens
in Europa nicht vertrocknet sind, und von dorther
wird immer wieder seine Wiedergeburt
kommen. Da jedoch, wo Europa zu bewußt
am Werk ist, das Gebäude seiner Macht aufzurichten85
und seine bessere Natur verleugnet und
verspottet, da häuft es seine Missetaten zum
Himmel auf und fordert Gottes Rache heraus,
indem es die giftige Saat physischer und moralischer
Häßlichkeit über die ganze Erde sät und
durch sein herzloses Treiben des Menschen
Gefühl für das Schöne und Gute freventlich
verletzt. Europa ist äußerst gut in seinem
Wohltun, solange es seinen Blick auf die ganze
Menschheit richtet, und es ist äußerst böse in
seinem Übeltun, sobald es seinen Blick nur auf
sein eigenes Interesse richtet und alle Kraft
zur Größe nur auf Zwecke verwendet, die dem
Unsterblichen und Ewigen im Menschen entgegen
sind.
Ostasien hat seinen alten Pfad verfolgt und
eine Kultur entwickelt, die nicht politisch, sondern
sozial ist, nicht räuberisch und mechanisch
wirksam, sondern geistig und auf all die
mannigfachen tieferen menschlichen Beziehungen
gegründet. Es hat in stiller Zurückgezogenheit
für die Lebensprobleme der Völker
Lösungen ersonnen und hat sie im Schutz
seiner Abgeschlossenheit, kaum berührt von
dynastischen Wechseln und Einfällen fremder86
Völker, ausgeführt. Aber jetzt, da die Welt
von außen über uns hereingebrochen ist, ist
unsere Abgeschlossenheit für immer dahin.
Und doch dürfen wir dies nicht beklagen, wie
eine Pflanze es nicht beklagen darf, wenn sie
aus dunkler Erde zum Licht emporgezogen
wird. Jetzt ist die Zeit gekommen, wo wir die
Aufgabe der ganzen Welt zu unserer Aufgabe
machen müssen; wir müssen den Geist unserer
Kultur mit der Geschichte aller Nationen der
Erde in Einklang zu bringen suchen, wir
dürfen uns nicht in törichtem Stolz in der
Samenhülle und in der Erdrinde, die unsere
Ideale schützen und nährten, festhalten, denn
beide, Hülle und Rinde, müssen durchbrochen
werden, wenn das Leben in all seiner Kraft
und Schönheit emporschießen soll, um der
Welt im Licht des Tages seine Gaben zu
bieten.
Diese Aufgabe, die Schranke zu durchbrechen
und in die Welt hinauszutreten, hat
von den Völkern des Ostens Japan zuerst auf
sich genommen. Es hat das Herz ganz Asiens
mit Hoffnung belebt. Diese Hoffnung gibt uns
die heimliche Flamme, die jedes Schöpfungswerk87
braucht. Asien fühlt jetzt, daß es sein
Leben beweisen muß, dadurch, daß es lebendige
Werke schafft; daß es nicht müßig schlafend
daliegen oder, durch Furcht oder Schmeichelei
betört, in schwächlicher Nachahmung dem
Westen huldigen darf. Dafür sagen wir dem
Land der aufgehenden Sonne Dank und bitten
es feierlich, immer dessen eingedenk zu sein,
daß es die Mission des Ostens zu erfüllen hat.
Es muß dem Herzen der modernen Kultur den
Lebenssaft tieferer Menschlichkeit einflößen.
Es darf sie nicht vom Unterholz ersticken
lassen, sondern muß sie hinaufführen zu Licht
und Freiheit, zu reiner Luft und weitem Raum,
wo sie im Licht des Tages und im Dunkel der
Nacht die Stimme des Himmels vernehmen
kann. Auf daß die Erhabenheit seiner Ideale
allen Menschen sichtbar werde wie sein schneegekrönter
Futschijama, der aus dem Herzen
seines Landes aufsteigt in die Region des Unendlichen
und sich stolz von seiner Umgebung
abhebt, schön wie ein Mädchen in dem wundervollen
Schwung seiner Linien, und doch fest
und stark und von ruhiger Majestät.
88II.
Ich bin in vielen Ländern gereist und Menschen
von allen Klassen begegnet, aber nirgends
auf meinen Reisen fühlte ich die Gegenwart
des Menschlichen so stark wie in diesem Lande.
In andern großen Ländern waren die Zeichen
der Macht des Menschen weithin sichtbar, und
ich sah ungeheure Organisationen, die sich
nach allen Seiten wirksam zeigten. Die Pracht
und Üppigkeit, die dort herrscht in Kleidung,
Einrichtung und kostspieliger Unterhaltung,
ist erschreckend. Man fühlt sich bei ihnen in
die Ecke gedrückt wie ein ungebetener Gast
beim Festmahl; halb ist man von Neid erfüllt,
halb atemlos vor Staunen. Bei ihnen hat man
nicht das Gefühl, daß der Mensch das Höchste
ist, sondern man wird immer gegen einen
Haufen erstaunlicher Dinge geschleudert, die
uns von den Menschen trennen. Aber in Japan
ist nicht die Entfaltung von Macht und Reichtum
das herrschende Lebenselement. Man sieht
überall Zeichen von Liebe und Bewunderung
und nicht überwiegend von Ehrgeiz und Habsucht.
Man sieht ein Volk, dessen Herz sich
erschlossen hat und sich verschwenderisch ausgibt89
in den einfachsten Geräten des täglichen
Lebens, in seinen sozialen Einrichtungen, in
seinen sorgsam gepflegten und zur Vollkommenheit
ausgebildeten Lebensformen und
in seiner Art mit den Dingen umzugehen, die
nicht nur geschickt, sondern zugleich in jeder
Bewegung anmutig ist.
Was in diesem Lande den größten Eindruck
auf mich gemacht hat, ist die Erkenntnis, daß
ihr die Geheimnisse der Natur nicht durch
methodisches Zergliedern, sondern unmittelbar
durch Anempfinden erfaßt habt. Ihr habt
die Sprache ihrer Linien und die Musik ihrer
Farben erkannt, das Ebenmaß in ihren Ungleichmäßigkeiten
und den Rhythmus in der
Freiheit ihrer Bewegungen; ihr habt gesehen,
wie sie die ungeheuren Scharen ihrer Wesen
führt und doch alle Reibungen vermeidet, wie
selbst die Widerstreite in ihren Schöpfungen
in Tanz und Musik sich lösen, wie ihr Überfluß
die Fülle der selbstlosen Hingabe ist, nicht
prahlerische Verschwendung. Ihr habt erkannt,
daß die Natur ihre Kraft in Formen der Schönheit
aufbewahrt, und diese Schönheit ist es,
welche wie eine Mutter alle Riesenkräfte an90
ihrer Brust nährt, indem sie sie in tätiger Wirksamkeit,
und doch in Ruhe hält. Ihr habt erkannt,
daß die Lebenskräfte der Natur sich vor
Erschöpfung bewahren durch den Rhythmus
vollkommener Anmut, und daß sie durch die
Zartheit ihrer geschwungenen Linien die
Müdigkeit von den Muskeln der Welt nimmt.
Ich habe gefühlt, daß ihr es vermocht habt,
diesen Geheimnissen euer Leben anzugleichen,
und daß ihr die Wahrheit, die in der Schönheit
aller Dinge liegt, in eure Seele aufgenommen
habt. Ein bloßes Wissen von Dingen kann man
in kurzer Zeit erwerben, aber ihr Geist kann
nur erworben werden durch jahrhundertelange
Erziehung und Selbstbeherrschung. Die
Natur von außen beherrschen ist viel einfacher
als sie in Liebe sich zu eigen machen,
denn dies kann nur ein wahrhaft schöpferischer
Geist. Euer Volk hat diese schöpferische
Kraft gezeigt; es erwarb nicht, sondern es
schuf; es stellte nicht Dinge zur Schau, sondern
offenbarte sein eigenes inneres Wesen. Dieser
schöpferische Geist ist allen Völkern eigen;
er bemächtigt sich der Menschennaturen und
formt sie nach seinen Idealen. Aber hier in91
Japan scheint er seine Aufgabe vollendet zu
haben, indem er in den Geist des ganzen Volkes
einging und seine Muskeln und Nerven durchdrang.
Eure Instinkte sind zuverlässig geworden,
eure Sinne scharf, und eure Hände
haben natürliche Geschicklichkeit erlangt. Der
Schöpfergeist Europas hat seinen Völkern die
Kraft zur Organisation gegeben, die sich besonders
in der Politik, im Handel und in den
wissenschaftlichen Betrieben gezeigt hat. Der
Schöpfergeist Japans hat euch die Schönheit
in der Natur gezeigt und euch die Kraft gegeben,
sie im Leben zu verwirklichen.
In jeder besonderen Zivilisation drückt sich
eine besondere menschliche Erfahrung aus.
Europa scheint am tiefsten den Widerstreit
der Dinge im Weltall empfunden zu haben,
dessen man nur Herr wird, indem man sie erobert.
Daher ist es immer zum Kampf gerüstet
und richtet seine ganze Aufmerksamkeit darauf,
Kräfte zu organisieren. Japan dagegen
hat in seiner Welt die Berührung mit einem
Wesen gespürt, vor dem seine Seele sich in
Ehrfurcht beugt. Daher rühmt es sich nicht,
die Natur zu beherrschen, sondern bringt ihr92
mit unendlichem und freudigem Bemühen die
Opfer seiner Liebe dar. Seine Verwandtschaft
mit der Welt ist die tiefere Verwandschaft der
Seele. Dieses geistige Liebesband verknüpft es
mit den Hügeln seines Landes, mit dem Meer
und den Strömen, mit den Wäldern und ihrem
ganzen Reichtum an Schönheit und Stimmung;
es hat das Rauschen und Flüstern und Seufzen
der Wälder und das Schluchzen der Wellen
in seine Seele aufgenommen; es hat in stillem,
staunendem Schauen die Sonne des Tags auf
ihrem Pfad begleitet und den Mond des Nachts,
und es ist froh, wenn es seine Werkstätten
und Läden schließen darf, um draußen in den
Obstgärten und Kornfeldern die Jahreszeiten
zu begrüßen. – Und so sein Herz der Seele der
Welt öffnen, ist nicht das Vorrecht eines Teils
eurer bevorzugten Klassen, es ist nicht künstlich
erworbenes exotisches Kulturprodukt, sondern
es ist allen eigen, allen Männern und
Frauen aller Stände. Diese Erfahrung eurer
Seele, daß ihr ein persönliches Wesen im
Innersten der Welt gespürt habt, ist in eurer
Kultur verkörpert. Es ist die Kultur der
Brüderlichkeit. So hat eure Pflicht gegen den93
Staat den Charakter der Kindespflicht angenommen,
und euer Volk ist eine Familie geworden,
deren Haupt der Kaiser ist. Eure
nationale Einheit gründet sich nicht auf
Waffenbrüderschaft zu Verteidigung und Angriff,
oder auf Spießgesellenschaft zu räuberischen
Abenteuern, wobei jedes Mitglied
gleichen Anteil an Gefahr und Beute hat. Sie
ergibt sich nicht aus der Notwendigkeit, sich
zu irgendeinem über diesen Kreis hinausgreifenden
Zweck zu organisieren, sondern sie ist
nur die Ausdehnung des Familiengefühls und
der Verpflichtungen des Herzens auf ein nach
Raum und Zeit viel weiteres Feld. Eure Kultur
gründet sich auf das Ideal der »maitri«[2], –
maitri gegenüber den Menschen und maitri
gegenüber der Natur. Und der wahre Ausdruck
dieser Liebe ist die Sprache der Schönheit, die
die allgemeine Sprache dieses Landes ist. Sie
macht es, daß ein Fremder wie ich nicht mit
einem Gefühl des Neides oder der Demütigung94
all diesen Offenbarungen von Schönheit und
Liebe gegenübersteht, sondern mit Freude und
Frohlocken die Herrlichkeit und Größe des
Menschenherzens preist, die sich in ihnen
kundgibt.
[2] Sanskrit maitrī »Freundschaft«, im Buddhismus Ausdruck
für Wohlwollen (eines der vier Gefühle – Wohlwollen,
Mitleid, Heiterkeit, Gleichmut – die als Vorbereitung
auf das höhere geistige Streben gepflegt werden
sollen).
Und aus diesem Grunde fürchte ich die Veränderung,
die die japanische Kultur bedroht,
wie eine Gefahr für mich selbst. Denn die ungeheure
Andersartigkeit des modernen Zeitalters,
wo der Nutzen das einzige Band ist,
das die Menschen verbindet, sticht nirgends so
kläglich ab von der Würde und verborgenen
Kraft stiller Schönheit wie in Japan.
Aber die Gefahr liegt darin, daß die organisierte
Häßlichkeit den Geist bestürmt und den
Sieg davonträgt durch die Wucht ihrer Masse,
durch die Hartnäckigkeit ihres Angriffs, durch
die Macht des Spottes, den sie gegen die tieferen
Gefühle des Herzens richtet. Ihre grobe
Aufdringlichkeit zieht gewaltsam unseren Blick
auf sich und übermannt unsere Sinne, – und
wir opfern auf ihrem Altar wie der Wilde
dem Fetisch opfert, der ihm wegen seiner
grauenhaften Häßlichkeit mächtig erscheint.
Daher ist ihre Nebenbuhlerschaft den Dingen,95
die still und tief und zart sind, so gefährlich.
Ich bin sicher, daß es bei euch Menschen
gibt, die kein Gefühl für eure Ideale haben;
die nur gewinnen wollen, nicht wachsen. Sie
prahlen laut, daß sie Japan modernisiert haben.
Wenn ich ihnen auch zugebe, daß der Geist
eines Volkes mit dem Geist seiner Zeit übereinstimmen
muß, so muß ich ihnen doch zu bedenken
geben, daß das Modernisierte ebensowenig
das wahrhaft Moderne ist, wie Versmacherei
wahre Dichtkunst. Es ist nichts als
Nachahmung, nur ist die Nachahmung lauter
als das Original und folgt ihm zu sklavisch.
Wir müssen bedenken, daß die wahrhaft vom
modernen Geist Beseelten es nicht nötig haben,
zu modernisieren, ebensowenig wie die wahrhaft
Tapfern Prahler sind. Das Moderne besteht
nicht in europäischer Kleidung oder in
den häßlichen Gebäuden, worin man die Kinder
beim Unterricht einsperrt, oder in den viereckigen,
von parallelen Fensterreihen durchlöcherten
Häuserkästen, worin die Menschen
zeitlebens eingekerkert sind. Und sicher zeigt
sich der moderne Geist nicht in den mit96
allen möglichen Widersinnigkeiten beladenen
Damenhüten. Diese Dinge sind nicht modern,
sondern nur europäisch. Das wahrhaft Moderne
ist Freiheit des Geistes, nicht Sklaverei des Geschmacks.
Es ist Unabhängigkeit des Denkens
und Handelns, nicht Unmündigkeit unter der
Vormundschaft europäischer Schulmeister. Es
ist Wissenschaft, aber nicht ihre verkehrte Anwendung
im Leben, eine bloße Nachahmung
unserer Lehrmeister in der Naturwissenschaft,
die sie zum törichten Aberglauben herabwürdigen,
indem sie ihre Hilfe zu allen möglichen
und unmöglichen Zwecken anrufen.
Das Leben, das sich auf bloße Wissenschaft
gründet, hat für manche einen Reiz, weil es das
Wesen des Sports hat: es gibt sich als Ernst
und ist im Grunde nur eine Unterhaltung. Wer
auf die Jagd geht, muß möglichst wenig von
Mitleid wissen, denn sein einziges Ziel ist, das
Wild zu jagen und zu töten, zu fühlen, daß er
das stärkere Tier ist, daß seine Vernichtungsmethode
gründlich und wissenschaftlich ist.
Und ein Leben, das in der Wissenschaft aufgeht,
ist solch ein oberflächliches Sportsleben.
Es strebt mit Geschick und Gründlichkeit nach97
Erfolg und kümmert sich nicht um die höhere
Natur des Menschen. Aber die, die roh genug
sind, wirklich glauben zu können, daß der
Mensch nichts weiter als ein Jäger und sein
Paradies ein Paradies für Sportsleute ist, und
die danach ihr Leben einrichten, werden eines
Tages mitten unter ihren Jagdtrophäen von
Schädeln und Skeletten mit rauher Hand aus
ihrem Wahn herausgerissen.
Ich will damit durchaus nicht sagen, daß
Japan nicht darauf bedacht sein sollte, sich
moderne Waffen zu seiner Verteidigung zu
verschaffen. Aber dies sollte nie über das,
was der Selbsterhaltungstrieb verlangt, hinausgehen.
Japan muß bedenken, daß die wahre
Macht nicht in den Waffen selbst liegt, sondern
in dem Mann, der diese Waffen schwingt; und
wenn er in seinem eifrigen Streben nach
Macht seine Waffen auf Kosten seiner Seele
vervielfältigt, so ist er selbst in größerer Gefahr
als seine Feinde.
Lebendiges ist so leicht zu verletzen, daher
bedarf es des Schutzes. In der Natur schützt
das Leben sich durch Hüllen, die selbst aus
lebendigem Stoff gebaut sind. Daher halten98
sie mit dem Wachstum des Lebens Schritt,
oder sie lösen sich leicht ab, wenn die Zeit
kommt, und werden vergessen. Der wahre
Schutz des Menschen sind seine Ideale, die in
lebendigem Zusammenhang mit seinem Leben
stehen und mit ihm wachsen. Aber zu seinem
Unglück sind nicht alle seine Schutzhüllen
lebendig, einige sind aus trägem und totem
Stahl gemacht. Daher muß der Mensch, während
er sie gebraucht, achtgeben, daß sie ihm
nicht zu Tyrannen werden. Wenn er so schwach
ist, daß er sich kleiner macht, um sich seiner
Schutzhülle anzupassen, dann wird es ein langsamer
Selbstmord, indem die Seele nach und
nach zusammenschrumpft. Wenn Japan diese
Gefahr vermeiden will, muß es den festen
Glauben an das sittliche Lebensgesetz haben
und überzeugt sein, daß die Völker des Westens
diesen Pfad zum Selbstmord gehen, indem sie
ihr Menschentum ersticken unter dem ungeheuren
Gewicht ihrer Organisationen, um sich
selbst in der Macht und andere in Sklaverei zu
halten.
Das Gefährliche für Japan ist nicht die
Nachahmung der äußeren Erscheinungen der99
westlichen Kultur, sondern die Übernahme
ihrer inneren Triebkräfte. Seine sozialen Ideale
fangen schon an zurückzuweichen im Kampf
gegen die Politik, und es zeigt schon Neigung
zum politischen Hazardspiel, bei dem die Beteiligten
ihre Seele einsetzen, um das Spiel zu
gewinnen. Ich sehe ihr Motto, das sie von der
Naturwissenschaft übernommen haben: »Das
Überleben des Passendsten« – ich sehe es in
großen Buchstaben über dem Eingang ihrer
gegenwärtigen Geschichte, das Motto, dessen
Sinn ist: »Hilf dir, und kümmere dich nicht
darum, was es andere kostet« – das Motto des
Blinden, der nur an das glaubt, was er berührt,
weil er nicht sehen kann. Aber die, die sehen
können, wissen sich so eng mit den Menschen
verbunden, daß, wenn sie andere schlagen, der
Schlag auf sie zurückfällt. Die größte Entdeckung,
die der Mensch je gemacht hat, ist
die Entdeckung des sittlichen Gesetzes, daß der
Mensch der Wahrheit um so näher kommt,
je mehr er sich in andern erkennt und empfindet.
Diese Wahrheit hat nicht nur subjektiven
Wert, sondern sie offenbart sich in jeder
Lebenssphäre. Und Völker, die eifrig sittliche100
Blindheit als Vaterlandsliebe kultivieren, werden
jäh und gewaltsam zugrunde gehen. In
früheren Zeiten hatten wir die Einfälle fremder
Eroberer zu erdulden, es gab Grausamkeit
und Blutvergießen, Eifersuchtsintrigen und
Habgier. Aber die Seele des Volkes wurde von
alledem nicht in ihrer Tiefe berührt, denn das
Volk als Ganzes war an diesem Treiben nicht
aktiv beteiligt. Diese Dinge gingen nur aus dem
Ehrgeiz einzelner hervor. Das Volk selbst, da
es frei war von der Verantwortlichkeit für die
niedrige und verbrecherische Seite jener Abenteuer,
hatte davon nur den sittlichen Gewinn,
daß seine Anlagen zum Heldentum und zur
Menschlichkeit dadurch entwickelt wurden:
seine nicht wankende Untertanentreue, seine
unbedingte Hingabe an die Pflichten der Ehre,
seine Fähigkeit, sich ganz aufzuopfern, und
seine Furchtlosigkeit gegenüber Tod und Gefahr.
Daher wurden die Ideale, die im Herzen
des Volkes ihren Sitz hatten, nicht ernstlich
gefährdet durch die wechselnde Politik der
Könige und Heerführer. Aber jetzt, wo der
Geist der westlichen Zivilisation zur Herrschaft
gekommen ist, wird in dem ganzen Volk von101
Kindheit an Haß und Ehrgeiz genährt durch
alle möglichen Mittel: dadurch, daß man die
Geschichte halb wahr oder unwahr darstellt,
daß man falsche Vorstellungen von andern
Völkern erweckt und unfreundliche Gefühle
gegen sie großzieht, daß man Ereignisse, die
um der Menschlichkeit willen möglichst schnell
vergessen werden sollten, in Denkschriften
festhält, häufig auf Kosten der Wahrheit, und
so beständig schlimme Bedrohungen gegen
Nachbarn und fremde Völker schafft. Dies
heißt die Menschlichkeit an ihrer Quelle vergiften.
Es heißt die Ideale entwerten, die aus
dem Leben unserer Größten und Besten geboren
sind. Es heißt die Selbstsucht als riesiges
Götzenbild aufstellen für alle Völker der Erde.
Wir können alles andere aus den Händen der
Naturwissenschaft annehmen, nur nicht dieses
Elixir sittlichen Todes. Glaubt doch keinen
Augenblick, daß das Übel, das ihr andern Völkern
zufügt, euch nicht anstecken wird, und
daß die Feindschaft, die ihr rings um euch sät,
für alle Zukunft eine Schutzmauer für euch
werden könnte! Wenn man den Geist eines
ganzen Volkes mit maßloser Eitelkeit auf seine102
Überlegenheit erfüllt, wenn man es lehrt, stolz
zu sein auf sittliche Stumpfheit und auf seinen
durch Unrecht erworbenen Reichtum, wenn
man die Demütigung besiegter Völker dauernd
macht, indem man Siegestrophäen zur Schau
stellt und sie in den Schulen benutzt, um im
Herzen der Kinder Verachtung für andere
großzuziehen, so ahmt man dem Westen da
nach, wo er ein eiterndes Geschwür hat, das
immer weiter um sich frißt, bis in seinen
Lebenskern.
Unsere Nährpflanzen, die zu unserem
Lebensunterhalt nötig sind, sind Produkte
jahrhundertelanger sorgfältiger Auslese und
Pflege. Aber die Pflanzen, die wir nicht zu
Lebenssaft in uns umschaffen, bedürfen nicht
der geduldigen Pflege ganzer Menschenalter.
Es ist nicht leicht, Unkraut loszuwerden, aber
es ist leicht, durch dauernde Vernachlässigung
die Nährpflanzen wieder verwildern zu lassen.
So verlangte auch die Kultur, die sich so gütig
eurem Boden angepaßt hat und so mit eurem
Leben und eurer Menschlichkeit verwachsen
ist, nicht nur in früheren Zeiten fleißiges Umgraben
und Jäten, sondern sie bedarf noch jetzt103
sorgfältiger Arbeit und Wachsamkeit. Das, was
nur modern ist, wie die Naturwissenschaft und
die Organisation, läßt sich verpflanzen; aber
das, was zum Wesen des Menschen gehört, hat
so zarte Fasern und so zahlreiche und weitgreifende
Wurzeln, daß es stirbt, wenn es aus
seinem Boden gerissen wird. Daher macht es
mich besorgt, wenn ihr mit rauher Hand die
politischen Ideale des Westens euren eigenen
aufdrückt. In der westlichen Politik ist der
Staat ein abstrakter Begriff und eine Verbindung
der Menschen auf Grund des Nützlichkeitsprinzips.
Weil solche Zivilisation nicht im
Gefühl wurzelt, ist sie so gefährlich leicht zu
handhaben. Ein halbes Jahrhundert hat für
euch genügt, um diese Maschine zu meistern,
und es gibt Menschen unter euch, die sie lieber
haben als die lebendigen Ideale, die mit eurem
Volk geboren und jahrhundertelang von euch
gepflegt wurden. Sie sind wie Kinder, die in
der Begeisterung des Spiels glauben, ihre
Spielsachen mehr zu lieben als ihre Mutter.
Wo der Mensch am größten ist, ist er unbewußt.
Eure Kultur, die aus eurem Gemeinschaftsgefühl
entsprungen ist, wurzelt in104
der Tiefe eines gesunden Lebens, wohin
der Späherblick der Selbstbeobachtung nicht
reicht. Aber eine rein politische Zusammengehörigkeit
ist durchaus bewußt, sie äußert
sich als ein plötzlich ausbrechendes Fieber der
Angriffslust, wie es sich jetzt gewaltsam eurer
Seele bemächtigt hat. Und die Zeit ist gekommen,
wo ihr zu vollem Bewußtsein aufgerüttelt
werden müßt, damit ihr eure wahre
Lebensquelle noch rechtzeitig erkennt, ehe es
zu spät ist. Die Vergangenheit wurde euch von
Gott geschenkt, für die Gegenwart müßt ihr
selbst die Wahl treffen.
Daher müßt ihr diese Fragen an euch
stellen: Haben wir die Welt falsch verstanden
und unsere Beziehung zu ihr auf Unkenntnis
der menschlichen Natur gegründet? Hat der
Instinkt des Westens recht, der sein nationales
Wohl aufbauen will hinter einer Mauer von
Mißtrauen gegen die ganze Menschheit?
Ihr müßt immer einen starken Unterton von
Furcht gespürt haben, wenn der Westen von
der Möglichkeit sprach, daß ein östliches Volk
emporkommen könnte. Der Grund dafür ist,
daß die Macht, wodurch der Westen herrscht,105
eine böse Macht ist. Solange er sie allein auf
seiner Seite hat, ist er sicher, während die
übrige Welt zittert. Die gegenwärtige Zivilisation
Europas muß, wenn sie leben soll, trachten,
den Satan und seine Mächte ausschließlich
in ihrem Dienst zu haben. Ihre ganze
Kriegsausrüstung und Diplomatie richten sich
auf dies eine Ziel. Aber all diese kostspieligen
Riten zur Beschwörung des bösen Geistes
führen auf einem Weg äußeren Gedeihens
zum Rand eines Abgrunds. Die Schreckensfurien,
die der Westen auf Gottes Welt losgelassen
hat, werden zu ihm zurückkommen
und ihn selbst bedrohen und ihn zu immer
furchtbareren Rüstungen treiben, und er wird
keine Ruhe finden und alles vergessen und an
nichts anderes denken können als an die Gefahren,
die er für andere bewirkt und die er
selbst auf sich lädt. Dieser Politik des Teufels
opfert er andere Länder. Er nährt sich von
den Erschlagenen und wird fett davon, solange
die Leichname frisch sind; aber sie werden
zuletzt faulen und ihr Rachewerk beginnen, indem
sie weithin ihre unreinen Stoffe verbreiten
und die Lebenskraft derer vergiften, die sich106
von ihnen nähren. Japan hatte all seinen Reichtum
an Menschlichkeit, seine Begeisterung für
Heldentum und Schönheit, seine bewundernswerte
Kraft, sich zu beherrschen und sein
Wesen in der Kunst zum Ausdruck zu bringen;
doch die westlichen Völker hatten keine Ehrfurcht
vor ihm, bis es ihnen zeigte, daß die
Bluthunde des Satans nicht nur in den Hundehütten
Europas gezüchtet werden, sondern daß
man sie auch in Japan zähmen und mit dem
Elend der Menschen füttern kann. Sie geben
Japans Gleichberechtigung nur zu, wenn sie
wissen, daß Japan auch den Schlüssel besitzt,
um die Schleusen der Hölle zu öffnen und
diese schöne Erde mit ihrer Flut zu überschwemmen,
sobald es will, und daß es nach
ihrer eigenen Melodie den Höllentanz von
Plünderung, Mord und Frauenschändung tanzen
kann, während die Welt zugrunde geht.
Wir wissen, daß der sittlich noch unreife
Mensch nur vor dem Gott Ehrfurcht hat,
dessen Tücke er fürchtet. Aber ist dies das
Ideal des Menschen, zu dem wir mit Stolz aufsehen
können? Wenn nach Jahrhunderten der
Zivilisation die Völker einander fürchten wie107
in der Nacht nach Beute herumstreifende
Raubtiere, wenn sie ihre Türen ungastlich verschließen
und sich nur zum Angriff oder zur
Verteidigung zusammentun, wenn sie ihre Handelsgeheimnisse,
Staatsgeheimnisse, Rüstungsgeheimnisse
in ihren Höhlen verbergen, wenn
sie den bellenden Hunden der andern Fleisch
zur Beschwichtigung bieten, das ihnen nicht
gehört, wenn sie gesunkene Völker, die versuchen
sich aufzurichten, mit Gewalt niederhalten,
wenn sie ihre Sicherheit nur in der
Schwäche der übrigen Menschheit sehen, wenn
sie schwächeren Völkern mit der Rechten Religion
reichen und sie mit der Linken berauben,
– ist darin irgend etwas, das uns zur Nacheiferung
anspornen könnte? Sollen wir unsere
Knie vor dem Geiste dieser Zivilisation beugen,
der Samen von Furcht, Gier und Mißtrauen
und salbungsvolle Lügen von seiner Friedensliebe
und seinem guten Willen und von der
allgemeinen Brüderlichkeit mit breitem Wurf
über die ganze Welt sät? Können wir ohne
Mißtrauen im Herzen auf den Markt des
Westens eilen, um für unser Erbe jenes ausländische
Erzeugnis einzutauschen? Ich weiß,108
wie schwer es ist, sich selbst zu kennen, und
daß der Mann, der betrunken ist, wütend seine
Trunksucht ableugnet; doch der Westen selbst
denkt mit Sorge über seine Schäden nach und
sucht nach Heilmitteln. Aber er ist wie der
Schlemmer, der nicht das Herz hat, seine Unmäßigkeit
im Essen aufzugeben, und der sich
töricht an die Hoffnung klammert, er könnte
seine Verdauungsbeschwerden durch Arznei
heilen. Europa ist nicht gewillt, seine unmenschliche
Politik und all die niederen
Leidenschaften, die dazu gehören, aufzugeben;
es glaubt nur an eine Änderung des Systems,
aber nicht an eine Umwandlung des Herzens.