Chitra: Ein Spiel in einem Aufzug
Chitra: Ein Spiel in einem Aufzug-2
Arjuna
Ich brenne danach, alles von ihr zu
hören. Ich bin wie ein Wanderer, der
um Mitternacht an eine fremde Stadt
kommt. Kuppeln, Türme und Gartenbäume
sehen verschwommen und schattenhaft
aus, und durch die Stille des
Schlafes tönt hin und wieder das dumpfe
Klagen des Meeres. Und er harrt sehnsüchtig
auf den Morgen, der ihm alle die
fremden Wunder offenbaren soll. O, erzähle
mir ihre Geschichte.
Chitra
Was ist da mehr zu erzählen?
Arjuna
Meine Einbildung zaubert mir sie vor,
wie sie auf weißem Rosse reitet, in der
Linken die Zügel haltend und in der rechten
Hand den Bogen, gleich der Liebesgöttin,
die frohe Hoffnung spendet. Mit
wilder Liebe schützt sie ihre säugenden
Jungen wie eine wachsame Löwin. Auch
des Weibes Arme, die nichts anderes als
ungefesselte Kraft schmückt, sind schön!
Mein Herz ist ruhelos, Du Liebliche, wie
eine Schlange, die aus langem Winterschlaf
erwacht. Komm, laß uns miteinander
auf schnellen Rossen dahineilen,
Seite an Seite, wie Zwillingsgestirne, die
leuchtend den Raum durchmessen. Heraus
aus diesem dunklen, grünen, einschläfernden
Gefängnis, komm hervor
unter der feuchten, duftenden, berauschenden
Decke, die den Atem benimmt!
Chitra
Arjuna, sag mir die Wahrheit: wenn
ich mich jetzt plötzlich durch einen Zauber
dieser wollüstigen Weichheit entledigen
könnte, diesen zarten Schmelz der
Schönheit abstreifte, der vor der derben,
gesunden Berührung der Welt schaudert,
und das alles von meinem Körper herunterrisse
wie geborgtes Gewand — könntest
Du das ertragen? Wenn ich mich
aufrichte, grade und stark, mit der Kraft
eines mutigen Herzens, und die Listen
und Künste der kriechenden Schwachheit
verächtlich von mir weise, wenn ich
mein Haupt erhebe, wie die hohe, junge
Bergtanne, und mich nicht länger im
Staub winde, wie die Liane, — werde ich
dann Gnade finden vor den Augen des
Mannes? Nein, nein, Du könntest es nicht
ertragen. Es ist besser, ich verstreue um
mich all die zierlichen Spielereien flüchtiger
Jugend und warte auf Dich in Geduld.
Ist's Dir gefällig zurückzukehren,
so will ich Dir lächelnd aus dem Becher
dieses schönen Leibes den Wein der Lust
schenken. Hast Du genug davon und bist
Du müde, so will ich mich demütig und
dankbar in den Winkel zurückziehen,
den man mir gelassen hat. Wie gefiele
es Deiner Heldenseele, hoffte die Gespielin
der Nacht Deine Gefährtin am
Tage zu sein? Wie, wenn der linke Arm
die Last des stolzen rechten mit zu tragen
lernte?
Arjuna
Ich werde Dich niemals richtig erkennen. Eine Göttin, verborgen in einem
goldenen Heiligenbild scheinst Du mir.
Ich kann Dich nicht berühren, ich kann Dir Deine unschätzbaren Gaben nicht
vergelten. Und so bleibt meine Liebe unvollkommen. Aus der rätselhaften Tiefe
Deiner traurigen Augen, aus Deinen spielerischen Worten, die ihre eigene Bedeutung
verspotten, erhasche ich manchmal den Schimmer eines Wesens, das die
schmachtende Anmut seines Körpers vernichten möchte. In der reinen Flamme
des Leides, verborgen hinter des Lächelns zartem Schleier, sehnt es sich wieder zu
erstehen. Ein Trugbild, erscheint uns die Wahrheit zuerst, in einer Verkleidung
tritt sie vor den Geliebten hin. Aber es kommt eine Zeit, da sie Schleier und
Schmuck abwirft und dasteht, bekleidet mit nackter Hoheit. Ich verzehre mich
nach diesem letzten Du, nach jener einfachsten, wahrsten Klarheit. Was bedeuten
die Tränen, mein Lieb? Warum verbirgst Du Dein Gesicht in den Händen?
Hab ich Dir weh getan, mein Liebling? Vergiß, was ich sagte. Ich will mit der
Gegenwart zufrieden sein. Wie der Vogel Geheimnis aus unsichtbarem, dunkelm
Nest zu mir kommt, musikerfüllte Botschaft bringend, so komm Du zu mir und
laß mich jeden Augenblick der Schönheit erleben. Laß mich und meine Hoffnung
ewig am Ufer der Erfüllung sitzen und so meine Tage beschließen.
NEUNTE SZENE
IM WALD
Chitra
(in einen Mantel gehüllt.)
Mein Herr, hast Du den Becher bis
zur Neige geleert? Ist dies wirklich das
Ende? Nein, wenn alles getan, so bleibt
doch noch Eins, mein letztes Opfer, das
ich zu Deinen Füßen darbringe. Aus dem
himmlischen Garten brachte ich Blumen
von unvergleichlicher Schönheit, Dich
zu ehren, Gott meines Herzens.
Ich will die Blumen aus dem Tempel
hinauswerfen, wenn sie verwelkt sind und
die heilige Handlung vorüber.
(Sie nimmt ihren Mantel ab und trägt Männerkleidung wie am Anfang.)
Nun laß Deinen Knecht Gnade finden vor Deinen Augen.
Ich bin nicht schön und vollkommen
wie die Blumen, mit denen ich Dich ehrte.
Ich bin voller Schuld und Fehler. Auf
der großen Heerstraße der Welt bin ich
ein Wanderer, meine Kleider sind beschmutzt,
und Dornen haben meine Füße
blutig gerissen. Wie könnte ich schön
sein wie die Blumen, voll unbefleckter
Lieblichkeit, für die kurze Dauer eines
Augenblicks? Die Gabe, die ich Dir voll
Stolz darbringe, ist das Herz eines Weibes.
Darinnen ist eingeschlossen aller Schmerz
und alle Lust, alle Hoffnung, alle Furcht,
alle Scham einer Erdentochter.
Hier ist der Uranfang der Liebe, von
hier aus ringt sie nach Unsterblichkeit.
Im Herzen des Weibes liegt eine große
und erhabene Unvollkommenheit. Nun,
da die Anbetung der Schönheit vorüber,
nimm diesen
(auf sich zeigend)
als Deinen Knecht für kommende Tage.
Ich bin Chitra, die Königstochter. Vielleicht
erinnerst Du Dich des Tages, als in
Shivas Tempel ein Weib zu Dir trat, behangen
mit Putz und Schmuck. Die
Schamlose kam und warb um Dich wie
ein Mann. Du stießest sie zurück, und
Du tatest wohl daran. Herr, jenes Weib
— bin ich. Sie diente mir als Maske. Damals
verlieh mir die göttliche Gnade für
ein Jahr die strahlendste Gestalt, die je
einem Sterblichen wurde. Mit der Last
jenes Betruges beschwerte ich meines
Helden Herz. Dies Weib kann ich nicht
sein.
Ich bin Chitra. Keine Göttin bin ich,
die man anbetet, aber auch nicht ein
Gegenstand allgemeinen Mitleids, den
man achtlos abschüttelt wie ein Insekt.
Wenn Du mich würdig findest, Dir zur
Seite zu stehen, wenn ich die großen
Pflichten Deines Lebens teilen darf —
dann wirst Du mein wahres Wesen erkennen.
Wenn Dein Kind, das ich in meinem
Schoß nähre, ein Sohn sein wird,
will ich es lehren, ein zweiter Arjuna zu
werden. Wenn die Zeit kommt, werde
ich ihn zu Dir senden, und Du wirst endlich
mein eigenstes Ich erkennen. Heute
kann ich Dir nur Chitra darbringen, die
Tochter eines Königs.
Arjuna
Geliebte, mein Leben ist vollkommen
erfüllt.
ENDE
ANMERKUNGEN
Zu Seite:
5: Pandava (so für Pandaṟa zu lesen).
Das Königsgeschlecht, von dem das
Mahābhārata handelt, stammt von
Kuru ab; ein Zweig derselben sind
die Pāṇḍavas, fünf Brüder (S. 50), zu
denen der Held Arjuna gehört. Dieser
stammt also auch aus dem Hause
der Kurus. (S. 9).
35: Malati-Hain. Mālati ist der großblütige Jasmin.
38: Stephali-Blüten; lies Shephali. Śephālikā
ist der Strauch vitex negundo, dessen Blüten in Vasavadatta Abt. IV
mit Zinnoberkügelchen verglichen werden.
53: Kinsuka-Blüte. Der Kiṃśuka, Butea
frondosa, ist ein stattlicher Baum,
dessen Zweige im Frühjahr mit großen
scharlachroten Schmetterlingsblüten bedeckt sind. Die schöne Blüte
ist aber geruchlos.
56: Asoka-Blüten. Der Aśokabaum, Jonesia
Asoka, hat rote Blüten. Er spielt in der indischen Dichtung eine große
Rolle. Aśoka bedeutet »Kummerlos.«
Tagore's Dichtung entspricht nicht dem Sinn der Sage. Er sagt S. 6 von Chitrā's
Vater: »er hatte sie deshalb stets wie einen Sohn gehalten und zu seinem Erben gemacht«.
Der Text in Protap Chandra Roys Übersetzung lautet: I have duly
made her a Putrikā. putrikā ist ein juristischer
Ausdruck und bezeichnet eine
Tochter, die mangels eines Sohnes (putra)
die Familie ihres Vaters, nicht ihres Gatten
fortpflanzen soll. Für letzteren bedeutet
also die Eingehung einer solchen
Ehe den Verzicht auf die Fortpflanzung
seiner Familie. Tagore hat dies offenbar
nicht gewußt und macht daher aus putrikā
eine Tochter, die als Sohn (putra)
erzogen wird! Das Epos kennt eine Sage,
wo eine Prinzessin für einen Prinz ausgegeben
und als solcher erzogen wird
(die Geschichte von Śikhandin). Diese
Reminiszenz mag sich bei dem Dichter
mit dem Sagenstoff, auf den er in der Vorrede
hinweist, verschmolzen haben.
Für die Anmerkungen ist die Übersetzerin dem Sanskritisten der Bonner
Universität, Herrn Geheimrat Prof. Dr. Jacobi, zu Dank verpflichtet.